FAZ: Wie weiter nach dem Brexit? Jetzt ist die Zeit für einen Freundschaftsvertrag 2. Februar 2020

Seit gestern ist der Brexit Realität. Auch unsere bilateralen Beziehungen zu Großbritannien müssen nun neu geordnet werden. Gemeinsam mit meinem britischen Kollegen im Auswärtigen Ausschuss Tom Tugendhat schlage ich daher einen deutsch-britischen Freundschaftsvertrag vor.

Dr. Norbert Röttgen und Tom Tugendhat

Mehr als drei Jahre nach dem Referendum wurde der Brexit am Samstag zur Realität. Das Vereinigte Königreich verließ offiziell die Europäische Union. Nach 47 Jahren europäischer Integration und als Teil einer Gemeinschaft, die so eng verwoben ist wie die EU, ändert dieser Austritt nicht nur das Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU fundamental. Er hat auch weitreichende Folgen für die bilateralen Beziehungen der Mitgliedstaaten zu Großbritannien, die nun neu geoordnet werden müssen. Wir sind zwar unterschiedlicher Ansicht, was den Brexit betrifft, stimmen dafür aber umso dezidierter darin überein, dass es jetzt an der Zeit ist, nach vorne zu blicken.

Ein Großteil unserer zukünftigen Beziehungen wird auf der europäischen Ebene im Rahmen der laufenden Brexit-Verhandlungen geregelt werden. Aber einige Belange sind bilateraler Natur und verlangen eine Stärkung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit. Wir schlagen daher vor, möglichst bald einen deutsch-britischen Freundschaftsvertrag zu verabschieden, der zum Ziel hat, unsere gemeinsamen Werte zu stärken und eine neue Grundlage zu schaffen für unsere jeweilige Kultur- und Bildungspolitik, aber auch für unsere Außen- und Sicherheitspolitik. Ein solcher Vertrag würde ergänzend stehen neben den Vereinbarungen, die in den kommenden Wochen und Monaten zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU getroffen werden. Er würde unsere bilateralen Beziehungen stärken.

Eine der ersten Konsequenzen des Brexit wird sein, dass Beamte, Minister und Parlamentarier aus beiden Ländern sich nicht mehr regelmäßig in Brüssel treffen werden. Wir müssen Sorge tragen, dass das gegenseitige Verständnis darunter nicht leidet, und den fortlaufenden gegenseitigen Austausch fördern. Dazu beitragen würde, wenn beide Botschaften ihr Personal aufstocken und die Kultur- und Bildungsprogramme des Goethe-Institutes, des British Council oder des Deutschen Akademischen Austausch Dienstes ausgebaut würden. Unabhängig von der Entscheidung Großbritanniens, ob es nach 2020 ein vollwertiges Mitglied des Erasmus-Austauschprogrammes bleiben wird, sollten wir den direkten Austausch von deutschen und britischen Schülern, Studenten und Lehrern verbessern und Kooperationen zwischen unseren Wissenschaftlern vertiefen. Die Bewilligung neuer bilateraler Fördermöglichkeiten für gemeinsame Forschungsprojekte, die nicht länger durch die EU finanziert werden können, würde Zusammenarbeit anregen und könnte in gemeinsamen Exzellenzclustern an deutschen und britischen Universitäten münden.

Aber gemeinsame Projekte vermögen viel mehr als nur die Wissenschaft und Wirtschaft anzukurbeln. Sie werden auch unsere geteilten Werte enger verknüpfen. Deutschland und Großbritannien gehören zu den offensten und tolerantesten Gesellschaften der Welt. Dennoch ist nicht abzustreiten, dass Rassismus im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen in beiden Ländern zunehmen. Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, sollten wir ein deutsch-britisches Projekt ins Leben rufen, dass Intoleranz bekämpft und Solidarität stärkt. Aus ganz unterschiedlichen Gründen hat eine klare Positionierung gegen Antisemitismus besondere Bedeutung für unsere beiden Gesellschaften: Für uns Deutsche ist es eine Pflicht, die sich aus unserer historischen Verantwortung für den Holocaust ergibt; für Briten steht die fortlaufende Bekämpfung von Antisemitismus in direktem Bezug zu den vielen Menschenleben, die sie während der Nazi Diktatur gerettet haben, als Juden vor Verfolgung und Tod aus Kontinentaleuropa flohen. Als wichtige Verbündete Israels und zum 75. Jahrestag der Befreiung von Ausschwitz, sagen wir: Die Zeit zum Handeln ist jetzt.

Zu guter Letzt haben Großbritannien und Deutschland auch gemeinsame außenpolitische Interessen. Unsere beiden Länder standen in der Vergangenheit bei allen wichtigen internationalen Fragen vom Welthandel bis hin zum Nuklearabkommen mit dem Iran zusammen. Wir teilen uns nicht nur einen Kontinent, sondern stehen auch für dieselben Werte. Unsere Sicherheit ist daher untrennbar miteinander verbunden. Weder Geographie noch Geopolitik werden sich durch den Brexit ändern. Wir sehen daher beide die Notwendigkeit zur außenpolitischen Kooperation. Vor allem die Stabilität des Nahen- und Mittleren Ostens hat direkte Auswirkungen auf die Sicherheit und Stabilität unserer eigenen Gesellschaften und die unserer Nachbarn. Als Teil einer europäischen Initiative oder im Rahmen der E3, die Deutschland, Großbritannien und Frankreich umfasst, sollten wir ein umfassendes politisches und militärisches Engagement in der Region anstreben, das von der Stabilisierung des Irak bis zur aktiven Unterstützung des Friedensprozesses in Libyen reicht.

Mit dem Ende der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens ist es an der Zeit, nach vorne zu schauen und eine starke Grundlage für unsere zukünftigen Beziehungen zu schaffen. Ein deutsch-britischer Freundschaftsvertrag würde dafür den richtigen Rahmen setzen. Er wäre der erste Entwurf des neuen Kapitels, das wir gemeinsam schreiben werden.

 

Erschienen in der FAZ am 02.02.2020