Europa nach dem Brexit: ein Vorschlag für eine kontinentale Partnerschaft

05.09.2016

Von Jean Pisani-Ferry, Norbert Röttgen, André Sapir, Paul Tucker, Guntram B. Wolff

Nach der britischen Entscheidung, die EU zu verlassen, ist Europas Entwicklungskurs, ja sogar sein Schicksal, erneut eine Frage der freien Wahl geworden.

In einer immer unbeständigeren Welt haben weder die EU noch das Vereinigte Königreich Interesse an einer Trennung, die ihren Einfluss vermindert, da sich die wirtschaftlichen Machtverhältnisse von der westlichen Welt weg verlagern. Wir schlagen daher eine neue Form der Zusammenarbeit vor, eine kontinentale Partnerschaft. Großbritannien möchte eine gewisse Kontrolle über die Mobilität der Arbeitskräfte besitzen und zudem die supranationale Entscheidungsfindung der EU hinter sich lassen. Die vorgeschlagene kontinentale Partnerschaft würde darin bestehen, an einer Waren-, Dienstleistungs-, Kapitalmobilität und gewissen zeitweiligen Arbeitskräftemobilität teilzuhaben sowie an einem neuen System der zwischenstaatlichen Entscheidungsfindung und Durchsetzung gemeinsamer Regeln, um die Homogenität des Binnenmarkts zu schützen. Dies führt zu einem Europa mit einem inneren Kreis, der EU, mit tiefer und politischer Einbindung und einem äußeren Kreis mit weniger Integration und weniger Beteiligung an der Entscheidungsfindung. Langfristig könnte dies auch als Vision dienen, um die Beziehungen zur Türkei, der Ukraine und anderen Ländern zu strukturieren.

Einführung

Seit fast sechzig Jahre hat eine scheinbar unwiderrufliche Dynamik hin zu einer Eingliederung im Rahmen der Europäischen Union für viele die Zukunft des Kontinents bestimmt. Am 23. Juni 2016 haben die Wähler des Vereinigten Königreichs die unabhängige Entscheidung getroffen, die EU zu verlassen. Nach der britischen Entscheidung des Austritts ist Europas Entwicklungskurs, ja sogar sein Schicksal, erneut eine Frage des eigenen Ermessens geworden. Der Brexit kennzeichnet sowohl eine große staatsrechtliche Veränderung für das Vereinigte Königreich, als auch einen bedeutenden Bruch für die EU. Allein aus diesem Grund muss die Aushandlung der Bedingungen des Brexit einen langfristigen Standpunkt einnehmen, der über die möglicherweise langwierigen Verhandlungen hinausgeht, die in den kommenden Monaten beginnen.

In den kommenden 15-20 Jahren wird sich das wirtschaftliche und geopolitische Kräfteverhältnis der Welt wohl bedeutend verändern, wobei die bevölkerungsreichsten Länder und ihre massiven Wirtschaften an der Spitze stehen. Unser Teil der Welt sollte danach streben, auch weiterhin einen Einfluss auf dieser Ebene zu besitzen, damit unsere spezielle Version von Zivilisation auch weiterhin in den obersten Gremien vertreten ist, die sich um eine Bewahrung des Friedens, die Festlegung von Regeln und die Schaffung weltweiten Wohlstands bemühen. Eine Vertretung sollte nicht als selbstverständlich angesehen werden. Die drei größten Länder der EU, Deutschland, Frankreich und Großbritannien sollten sich alle nicht so sicher sein, dass sie weiterhin ganz oben mitreden werden.

Und vordringlicher ruft die Konstellation der Sicherheitsrisiken in Eurasien danach, die Brexit-Trennung so zu handhaben, dass sie Europa in einer Zeit mit großen Herausforderungen an die Sicherheit, Freiheit und das Wohlergehen seiner Völker nicht weiter schwächt. Die aktuelle Situation ist eine bedenkliche Erinnerung an die Abhängigkeiten geografischer Nachbarn: Großbritannien kann die EU verlassen, aber es kann sich nicht aus Europa wegbewegen.

Das Gleiche lässt sich über die wirtschaftlichen Verknüpfungen sagen. Fast ein halbes Jahrhundert nach der ersten Erweiterung der EU in den frühen 1970ern sind die ökonomischen Umstände der EU und des Vereinigten Königreichs so miteinander verwoben, dass ihre Perspektiven in absehbarer Zeit nicht unabhängig sein können. Die wohl größte wirtschaftliche Unsicherheit für Großbritannien sind der zukünftige Kurs und Wohlstand der Eurozone, der bei weitem größten Wirtschaft in dieser Weltregion. Eine EU-Reform ist für den gesamten Kontinent enorm wichtig, mit oder ohne Brexit.

Eine Kooperation zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich bleibt daher äußerst wichtig. Es müssen Wege gefunden werden, um diese auf eine neue und sichere Grundlage zu stellen. Es sind zweifelsohne unterschiedliche Ansätze vonnöten, um die wesentlichen Unterschiede zwischen beispielsweise Handels- und Sicherheitsfragen zu reflektieren. Doch jeder neue Rahmen muss berücksichtigen, dass Ökonomie und Politik sich nicht klar voneinander trennen lassen. Sie sind z. B. bei Entscheidungen über Wirtschaftssanktionen miteinander verflochten, die bei der Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung helfen sollen. Die neuen Regelungen müssen dazu imstande sein, den verschwommenen Grenzen unterschiedlicher Bereiche der öffentlichen Ordnung gerecht zu werden.

Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung, dass die EU und das Vereinigte Königreich nicht nur mit klarem Blick für ihre kurzfristigen Ziele in die Exit-Verhandlungen eintritt, sondern auch für ihre langfristigen Interessen und vermutlichen Abhängigkeiten.

Auf der britischen Seite (und in der Tat für Entscheidungsträger in der gesamten entwickelten Welt) ist das Ergebnis des Referendums ein Signal, dass es dringende Bemühungen braucht, um dafür Sorge zu tragen, dass alle Menschen die Früchte zukünftigen Wirtschaftswachstums genießen können. Abgesehen von den Kosten, die mittelfristig durch die Unsicherheit um den Brexit entstehen, gilt es andere Risiken zu umschiffen, wie eine Auflösung der Handelsintegration mit der EU (Sampson et al, 2016)[2].

Auf EU-Seite mag man versucht sein, Großbritanniens Austritt und der neuen Beziehung mit strafenden Bedingungen zu begegnen. Großbritannien sollte natürlich nicht belohnt werden und nach Gutdünken wählen können, an welchen Politiken es teilnehmen möchte und an welchen nicht. Die EU sollte vermeiden, eine Reihe von Ad-hoc-Vereinbarungen einzugehen, die nicht auf klaren Prinzipien beruhen. Ein übertrieben ungünstiger Deal wäre aber eher zum Schaden aller und würde keinen Zusammenhalt in der EU schaffen. Innerhalb der EU sollte eine kontinuierliche Unterstützung auf Reformen beruhen, die erneut für Wachstum und Jobs sorgen und vor allem sicherere Grundlagen für die Eurozone herstellen.

Ein Ergebnis, das das Vereinigte Königreich isoliert und die Anreize für eine EU-Reform abschwächt, wäre kurz gesagt in keinem langfristigen Interesse für irgendjemand. Die Probleme der EU-/Eurozonenreform und die Frage, wie das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU zu definieren ist, sind folglich miteinander verknüpft. Mit oder ohne Brexit hätte das Vereinigte Königreich sowieso sein Verhältnis mit einer reformierten Eurozone (Sapir und Wolff, 2016) bestimmen müssen. In ähnlicher Weise warf die verstärkte politische Integration innerhalb der Eurozone, z. B. im Bankwesen, auch schon vor dem 23. Juni 2016 Fragen über das Verhältnis mit Großbritannien auf (Pisani-Ferry et al, 2012).

Dieses Kurzdossier klammert das Problem der EU-Reform aus und konzentriert sich auf die wünschenswerte Beziehung zwischen EU und Vereinigtem Königreich nach dem Brexit. Unser Ausgangspunkt ist die These, dass keines der bestehenden Partnerschaftsmodelle mit der EU für das Vereinigte Königreich geeignet wäre. Außerdem würden die Standardmodelle auch nicht die Bedeutung der vielschichtigen Beziehung zwischen der EU und Großbritannien in anderen Bereichen anerkennen, wie z. B. bei Sicherheit und Verteidigung. Die norwegische Option würde keine Begrenzungen bei der Freizügigkeit für Arbeitnehmer erlauben, die für die britische Regierung wohl eine der Prioritäten darstellt. Es würde das Vereinigte Königreich auch darauf beschränken, Regelungen einfach nur zuzustimmen, eine Rolle, die der Größe und Bedeutung Großbritanniens nicht angemessen wäre. Auch unter dem „Schweizer" Modell könnte das Vereinigte Königreich EU-Regelungen einfach nur in den Sektoren befolgen, in denen es teilnehmen würde. Aus EU-Sicht wäre diese Herangehensweise überdies der gerechtfertigten Kritik ausgesetzt, Großbritannien könne sich bei seiner Beteiligung am geteilten Gemeinwohl die Rosinen herauspicken.

Dann gibt es noch die Option eines Freihandelsabkommens. Dies wäre technisch machbar und könnte auf einer engen Übereinkunft beruhen, die auch bilaterale Mechanismen zur Regelung von Streitigkeiten beinhalten würde, falls eine politische Einigung zu erzielen ist. Solch eine Struktur wäre allerdings keine angemessene Basis für die Art von tiefgreifender wirtschaftlicher Integration, die eine Form der fortgesetzten Teilnahme am Binnenmarkt darstellen würde. Der komparative Kostenvorteil des Vereinigten Königreichs besteht größtenteils in regulierten Dienstleistungen, die einen vereinbarten Regulierungsrahmen erfordern, um grenzübergreifend angeboten werden zu können. Im Bankwesen beruht beispielsweise die Fähigkeit von Banken und anderen Vermittlern mit Sitz in Großbritannien, EU-weit zu agieren, nicht nur auf einem einzelnen Regelwerk, sondern auch auf Elementen überstaatlicher Kontrolle (Schoenmaker, 2016). Eine Handelsvereinbarung würde keine solchen mit einem Pass verbundenen Rechte enthalten und damit nicht nur der Stadt London, sondern auch Dienstleistungsunternehmen, die außerhalb der Hauptstadt tätig sind, Einschränkungen auferlegen.

Wir machen daher einen neuen Vorschlag für das Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien, der deutlich weniger tiefgehend ist als eine EU-Mitgliedschaft, aber viel enger als ein einfaches Freihandelsabkommen. Entscheidungsträger im Vereinigten Königreich und der EU sehen sich letztendlich der politischen Wahl gegenüber, entweder etwas im Sinne unserer Vorlage zu verfolgen oder eine distanzierte Freihandelsvereinbarung einzugehen.

Unser Vorschlag könnte als Basis für Beziehungen mit anderen Nachbarn langfristig für Europa auch eine breitere Bedeutung haben. Jenseits der unmittelbaren Prioritäten für die Situation mit dem Vereinigten Königreich fordert der Brexit die EU dazu heraus, ihre Beziehungen mit anderen Ländern in der Region zu überdenken und neu zu organisieren, dazu gehören die EWR-Länder[3], die Schweiz und, weniger dringend, die Türkei und die Ukraine.

Auf lange Sicht könnte unsere Vorlage zu einem Europa der zwei Kreise führen, mit der überstaatlichen EU und der Eurozone im Zentrum und einem äußeren Kreis von Ländern, die in einer strukturierten zwischenstaatlichen Partnerschaft involviert sind[4].

Wir sind der Ansicht, dass ein Abschied von den Standardvorlagen essentiell für einen Erfolg bei den Austrittsverhandlungen mit Großbritannien ist. Ohne eine langfristig geteilte Vision ihrer gemeinsamen Zukunft riskieren das Vereinigte Königreich und die EU, in prinzipienloses Feilschen hineingezogen zu werden und schwächen, wenngleich in Zeitlupe, ihre Positionen weltweit.

Die Zukunft der Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich

Im Kern ist die EU ein politisches Projekt gewesen. Sie ist nicht nur eine Gruppe von Staaten, die kooperieren, sondern eine Gruppe von Staaten, die supranationale Institutionen geschaffen haben, die eine vollziehende und rechtsprechende Obrigkeit über EU-Mitgliedstaaten haben und Gesetze verabschieden können, die in der gesamten EU direkt anwendbar sind. Dies ist in der Form des Europäischen Gerichtshofs vielleicht am deutlichsten, der nationale Rechtssysteme oder das Europäische Parlament überstimmen kann, das mit dem Rat Gesetze verabschieden kann, die im Endeffekt nationale Gesetze ersetzen. Die überstaatliche Obrigkeit der EU manifestiert sich auch im Regelungsbereich der Europäischen Kommission, z. B. bei der Wettbewerbspolitik und staatlichen Beihilfen.

Die Mehrheit der britischen Wähler, die am Referendum teilnahmen, haben letztendlich diese Vision der supranationalen Ausübung einer freiwillig geteilten Souveränität abgelehnt. Es war von besonderer Bedeutung, dass Großbritanniens Wähler eines der konstituierenden Elemente des Binnenmarkts zurückwiesen: die Freizügigkeit von Arbeitnehmern. 2014 lebten 5,3 Millionen Staatsbürger mit anderer Nationalität in Großbritannien, von denen 2,9 Millionen EU-Bürger waren. Davon arbeiten derzeit 2,2 Millionen im Vereinigten Königreich[5]. Wenngleich es wenig schlüssige Beweise dafür zu geben scheint, dass die Zahl der Ausländer in einem Wahlkreis ein entscheidender Faktor für die Wahrscheinlichkeit war, dass dieser Wahlkreis für einen Austritt stimmte (Darvas, 2016; Wren-Lewis, 2016), kann es keinen Zweifel daran geben, dass sich die Leave-Kampagne aus berechtigten Bedenken über das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Einwanderung erschloss.

Wir betrachten diese beiden politischen Auflagen in unserem Vorschlag als gegeben. Das von uns vorgeschlagene Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU würde somit auf einer zwischenstaatlichen Form der Zusammenarbeit beruhen, jedoch ohne das legale Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit, sondern auf einem System mit gewisser kontrollierter Mobilität der Arbeitskräfte und einem Beitrag zum EU-Haushalt. Das Ziel des Vorschlags besteht darin, einen Rahmen für eine weiterhin enge Kooperation, ja sogar Einbindung bei Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse zu schaffen.

Für einige besteht die kontroverseste Frage wohl darin, ob eine enge wirtschaftliche Integration vergleichbar zum Binnenmarkt möglich ist, während die Arbeitskräftemobilität teilweise eingeschränkt wird. Es gibt zwei Möglichkeiten, den Binnenmarkt zu charakterisieren. Eine ist funktionell, die andere verfassungsrechtlich.

· Die funktionelle Definition des Binnenmarkts besteht aus ihren zentralen funktionellen Elementen: (i) das Fehlen von Tarifen, (ii) einheitliche Regeln oder Mindeststandards, (iii) die Anwendung dieser Regeln und Standards unter gemeinsamer, überstaatlicher Zuständigkeit, (iv) eine einzige Wettbewerbspolitik und die Kontrolle staatlicher Beihilfen und (v) der Beitrag zu gemeinsamen öffentlichen Gütern, einschließlich durch den EU-Haushalt.

· Doch der Binnenmarkt wird häufig auch hinsichtlich der Dimensionen einer wirtschaftlich-politischen Verfassung definiert. Im Grunde sind diese Dimensionen die sogenannten „vier Freiheiten" beim Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr (z. B. Balassa, 1961). Bei diesem Konzept ist Arbeitnehmerfreizügigkeit ein wesentliches Element des Binnenmarkts, das mit den Römischen Verträgen verankert wurde.

Wir stimmen der ersten Sichtweise des Binnenmarkts zu. Es ist undenkbar, dass Unternehmen in einem Wirtschaftsraum frei agieren können, ohne einheitliche Regeln oder Mindeststandards zu gewährleisten, die einheitliche Wettbewerbsbedingungen in allen beteiligten Ländern bieten. Die Kontrolle staatlicher Beihilfen, Wettbewerbspolitik und gemeinsamen Regeln oder Mindeststandards sind daher unabdingbare Bestandteile des Binnenmarkts, ebenso wie die Beteiligung an einem essentiellen Kernbereich gesellschaftlicher Rechte, Verbraucherschutz und Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen. Die EU möchte vielleicht in zunehmendem Maße die Körperschaftssteuer in ihre Binnenmarktdiskussion mit aufnehmen, um Steuerflucht zu unterbinden, die der Binnenmarkt ermöglicht – ein Problem, das für das Vereinigte Königreich umstritten sein könnte.

Als politisches Projekt besteht der Binnenmarkt aus allen vier Freiheiten. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, durch die EU-Bürger dazu berechtigt sind, in einem anderen EU-Land Beschäftigung zu suchen und dort ohne eine Arbeitserlaubnis zu arbeiten, stellt wohl das Element dar, das aus dem Binnenmarktteil der EU ein politisches Projekt macht[6]. Rund 510 Millionen Bürgern Zugang zum inländischen Arbeitsmarkt zu gewähren, ist eine wichtige politische Entscheidung und ein starkes Symbol der Integration unter den EU-Ländern. Und dieses politische Projekt haben Großbritanniens Wähler im Endeffekt zurückgewiesen.

Von einem rein wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus können jedoch Waren, Dienstleistungen und Kapital in einem Binnenmarkt auch ohne Arbeitnehmerfreizügigkeit frei ausgetauscht werden, aber nicht ganz ohne eine gewisse Arbeitskräftemobilität. Der Kapitalverkehr kann ebenso frei stattfinden und Bankdienstleistungen können grenzübergreifend und ohne Freizügigkeit angeboten werden. Arbeitnehmerfreizügigkeit ist somit nicht unabdingbar für das reibungslose Funktionieren der wirtschaftlichen Integration bei Waren, Dienstleistungen und Kapital. Andererseits ist ein gewisses Maß an Arbeitskräftemobilität ein wesentliches Gegenstück zum freien Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital. Unternehmen, die in anderen Ländern tätig sind, müssen imstande sein, Arbeitnehmer ins Ausland zu versetzen, zumindest für einen begrenzten Zeitraum, um effizient produzieren zu können. Die vier Freiheiten des europäischen Binnenmarkts sind deshalb wirtschaftlich eng verbunden, aber nicht unveräußerlich[7]. Arbeitnehmerfreizügigkeit lässt sich vom Rest abkoppeln, doch eine bestimmte vorübergehende Mobilität der Arbeitskräfte ist notwendig. Daher geht es in unserem Vorschlag darum, wie sich die Lenkung des Binnenmarkts in diesem funktionellen Sinne organisieren lässt, ohne dass jeder ein Vollmitglied der EU ist.

Die gleiche Überlegung gilt auch für andere Bereiche der EU-Zuständigkeit. Wie ausgeführt, sind einige Kapitel des Acquis communautaire essentiell, damit ein integrierter Markt für Waren, Dienstleistungen und Kapital richtig funktioniert. Sie sollten daher in einem neuen Rahmenwerk für das Verhältnis zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich bestehen bleiben. Andere Kapitel, wie Energie oder Forschung, sind dagegen nicht wesentlich und sollten als optional angesehen werden.

Ein Vorschlag zur Strukturierung der Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich

Unser Vorschlag handelt davon, wie eine weniger politische Definition von wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Integration in einen Rahmen gefasst und organisiert werden kann. Wir schlagen die Gründung einer Kontinentalen Partnerschaft vor (Continental Partnership – CP). Das Ziel der CP ist die Beibehaltung der tiefgreifenden wirtschaftlichen Integration, die vollständige Beteiligung an der Waren-, Dienstleistungs-, Kapitalmobilität und eine Variante der befristeten Arbeitsmobilität, aber keine Freizügigkeit für Arbeitnehmer und keine politische Integration. Die CP sollte beinhalten:

o   Teilnahme an einer Serie von ausgewählten gemeinsamen Politiken in Übereinstimmung mit dem Zugang zum Binnenmarkt;

o   Teilnahme an einem neuen CP-System von Entscheidungsfindung und Vollstreckung auf zwischenstaatlicher Ebene;

o   Beitrag zum EU-Haushalt;

o   Enge Zusammenarbeit bei der Außen- und Sicherheitspolitik und eventuell bei Verteidigungsangelegenheiten;

Die CP würde einen weiteren Kreis um die EU, ohne deren übernationalen Charakter, schaffen, mit Ausnahme der Bereiche, in denen gemeinsame Durchsetzungsmechanismen benötigt werden, um die Homogenität des Binnenmarktes zu schützen. Mitglieder der CP wären die EU, alle EU-Mitgliedsländer, und das Vereinigte Königreich gemeinsam mit anderen Ländern, die daran teilnehmen.

Die offensichtliche Herausforderung für die EU-CP-Zusammenarbeit wird die Erhaltung der Verfahren und Strukturen der EU als überstaatliche Einrichtung und gleichzeitig die Gewährleistung sein, dass die Mitglieder der CP, die nicht Teil der EU sind, eine Stimme in gemeinsamen Angelegenheiten erhalten. Zwei grundsätzliche Fälle müssen unterschieden werden. Der erste betrifft Angelegenheiten, für die die EU bereits über einen zwischenstaatlichen Entscheidungsfindungsprozess verfügt. Hier kann die Frage der Zusammenarbeit relativ einfach gelöst werden, da die CP, was ihre Eigenschaft betrifft, ohnehin auf zwischenstaatlicher Ebene funktioniert. Politisch ist dieser Bereich der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit wichtig. Insbesondere die Aktivitäten der CP in den Bereichen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik – die Bereiche in denen Europa mit vielgestaltigen komplexen, beständigen und existenziellen Bedrohungen konfrontiert ist – würden hier eingeschlossen sein.

Der zweite, unbestreitbar schwierigere Fall betrifft die Bereiche, in denen die EU als überstaatliche Einrichtung mit (teilweiser) Souveränität handelt, einschließlich insbesondere der Angelegenheiten des Binnenmarktes. Die Zusammenarbeit in diesem Bereich bedeutet, dass – obwohl ein CP-Mitglied kein Mitglied der EU ist – es vollen Zugang zu den entsprechenden Teilen des Binnenmarktes erhalten würde, mit allen Rechten, Möglichkeiten und Verpflichtungen mit Ausnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Im Folgenden erörtern wir, wie diese Zusammenarbeit organisiert werden könnte.

Eine Frage betrifft die Gesetzgebung: Wir schlagen vor, dass die CP-Länder sich in einem CP-Rat versammeln, an dem auch die EU-Institutionen Anteil haben. Auf Ebene des CP-Rates würde das Vereinigte Königreich dadurch weiterhin an den zahlreichen unterschiedlichen Foren teilnehmen, wo die Details der Binnenmarktverordnungen und andere Politiken, an denen es weiterhin teilnimmt, erörtert und verhandelt werden. Natürlich könnte der CP-Rat keine EU-Rechtsvorschriften beschließen, doch die CP-Partner wären an den Lesungen von zukünftigen EU-Rechtsvorschriften beteiligt und hätten das Recht Änderungsvorschläge zu machen.

Die EU-Gesetze bezüglich des Binnenmarktes würden dennoch weiterhin im Rahmen des normalen Gesetzgebungsprozesses der EU beschlossen. In der Praxis würde das bedeuten, dass in den Bereichen, die die CP betreffen, der CP-Rat über die Gesetzesvorschläge beraten würde, bevor diese formell im Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament beschlossen würden, damit Standpunkte von Nicht-EU-Mitgliedern während des Gesetzgebungsprozesses und beim endgültigen Beschluss berücksichtigt werden könnten.

Formal würde es sich um eine politische – nicht rechtliche – Verpflichtung von EU-Mitgliedstaaten handeln, die Standpunkte und Erwägungen des CP-Rates zu berücksichtigen. Unser CP-Rat würde sich deshalb mit dieser großen politischen Aufgabe beschäftigen. Sollten die EU und ihre Partner innerhalb des CP-Rats nicht übereinstimmen, hätte formal weiterhin die EU das letzte Wort. Die Nichtmitglieder der EU, die der CP angehören, müssten dennoch die Binnenmarktgesetzgebung in ihr nationales Recht aufnehmen, oder würden bei der Teilnahme am Binnenmarkt auf Einschränkungen stoßen. Die CP-Partner würden über keine Vetorechte bezüglich EU-Entscheidungen verfügen, wären aber auf der zwischenstaatlichen Ebene des CP-Rats eng in den Gesetzgebungsprozess eingebunden.[8]

Umgekehrt müssten die CP-Mitglieder die Vollstreckungsmaßnahmen und Rechtsprechung, die die relevanten Freiheiten des Binnenmarktes schützen, akzeptieren. Sonst würde die Integrität und Kohärenz des Binnenmarktes untergraben. Die größte Herausforderung wird sein, ein Gleichgewicht zwischen Fairness und der notwendigen Homogenität bei der Anwendung zu finden. Im Falle der EWR-Länder ist ein EFTA-Gerichtshof zuständig. Dieser besteht aus Richtern der drei EWR-Länder. Entsprechende Vorschriften stellen sicher, dass dieser Gerichtshof dem Fallrecht des EuGH folgt (Allen and Overy, 2016; Wikipedia, 2016). Ob ein solcher Mechanismus im Falle einer CP mit einem großen Land wie dem Vereinigten Königreich ausreichend stabil sein würde, gilt es im Rahmen einer politischen und juristischen Debatte abzuklären. Wir denken, dass es notwendig sein könnte, stattdessen einen erweiterten EuGH in Erwägung zu ziehen, an dem Richter aus allen CP-Ländern beteiligt sind. Dieser Gerichtshof wäre aber weiterhin an das Fallrecht des EuGH gebunden.

Eine weitere wichtige Frage ist die Durchsetzung der Wettbewerbspolitik und die Überwachung staatlicher Beihilfen (Petropoulos, 2016). Im Falle der EWR-EFTA-Länder ist die Europäische Kommission im Allgemeinen für alle Fälle zuständig, die Auswirkungen jenseits der Grenzen haben[9]. Ob das für die CP ein gangbarer Weg ist, soll die politische Debatte abklären.

Die Beteiligung am EU-Haushalt würde ebenfalls von entscheidender Bedeutung sein. Obwohl viele Ausgabenposten des EU-Budgets überholt erscheinen mögen, stellt das Budget immer noch ein wesentliches Element des integrierten Wirtschaftsraums dar. Es ist im Bereich der Agrarpolitik unerlässlich, aber durch sein Streben nach struktureller Konvergenz ebenso wichtig für die Eröffnung von wirtschaftlichen Möglichkeiten für weniger entwickelte Teile der EU. Der EU-Haushalt bietet auch Unterstützung für Länder mit ‚Aufholbedarf'. Obwohl die Effizienz der Strukturfonds in einer politischen Debatte abgeklärt werden muss, dienen sie doch als Gegenleistung für die Übernahme der notwendigen Rechtsvorschriften des Binnenmarktes durch Kohäsionsländer, die den notwendigen Entwicklungsstand dafür noch nicht erreicht haben. Die Teilnahme am Haushalt ist deshalb die notwendige Gegenleistung für die Teilnahme am Binnenmarkt. Das Vereinigte Königreich würde einen Beitrag zum EU-Haushalt leisten müssen.

Aus politischer Sicht würde unser Vorschlag ein bedeutendes Zugeständnis der EU gegenüber dem Vereinigten Königreich bezüglich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern darstellen. Politisch könnte in Kontinentaleuropa die Tendenz bestehen, Grenzen in anderen Bereichen des Binnenmarktes einzuführen, wie beispielsweise finanzielle Dienstleistungen. Wir möchten anmerken, dass das Vereinigte Königreichgemäß unserem Vorschlag bereits einen politischen ‚Preis' zahlen muss, da die CP-Mitgliedschaft wesentlich weniger politischen Einfluss mit sich bringt als eine EU-Mitgliedschaft. Ob dieser Preis angemessen ist, bleibt der politischen Beurteilung überlassen.

Andere Politikbereiche der CP

Wir sehen drei Bereiche, in denen die CP tätig sein würde. Der erste, wie wir bereits erläutert haben, besteht aus der Übernahme des Besitzstandes in allen Bereichen des Binnenmarkts, ausgenommen der Regelungen zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Hier könnten wir uns die Schaffung eines Systems vorstellen, in dem das Vereinigte Königreich ein Quotensystem für die gesamte EU einführen würde, während die EU eine Quote für das Vereinigte Königreich einführen würde.[10]

Zweitens würde sich die CP mit gemeinsamer Außenwirtschaftspolitik befassen, insbesondere in Handelsbelangen und bezüglich regulatorischen Belangen im Finanzbereich. Die CP sollte nach globalem Einfluss im Handel, bei Finanzregulierungen und Klima- sowie Energiepolitik streben. Der globale Einfluss würde sicherstellen, dass der Brexit nicht zu einer langfristigen Schwächung der europäischen Stimme bei globalen Verhandlungen führen wird, wenn wir die wachsende Streuung bei den internationalen Kräfteverhältnissen berücksichtigen.

Die Handelspolitik unterliegt der ausschließlichen Zuständigkeit der EU. Wir sehen Interesse seitens der CP-Länder, die über keine EU-Mitgliedschaft verfügen, über den CP-Rat an der EU-Handelspolitik teilzunehmen, sich also dafür entscheiden, die Möglichkeit zur individuellen Verhandlung von neuen Freihandelsabkommen aufzugeben. Wiederum würde die endgültige Entscheidungsfindung durch die EU stattfinden, die rechtlich die formale Zuständigkeit behalten würde. Es gibt aber auch erhebliche Hindernisse, die deshalb in einer intensiven politischen Diskussion abgeklärt werden müssen (Sapir, 2016).

Angelegenheiten der Finanzregulierung werden oft in globalen Institutionen wie dem Basler Ausschuss verhandelt und beschlossen. In diesen Foren wird Europa durch eine Kombination aus EU-Institutionen und den Behörden einiger ihrer Mitgliedstaaten vertreten. Mittel- bis langfristig erwarten wir eine zunehmende Konzentration der externen Repräsentanz der EU durch EU-Institutionen wie der Europäischen Zentralbank. Es wäre sinnvoll, die Standpunkte der Bank of England, anderer Zentralbanken der CP und der Europäischen Zentralbank aufeinander abzustimmen. Ob CP-Länder nun ihre Vertretung in gemeinsamen Institutionen aufgeben wollen, wäre in zukünftigen Debatten abzuklären.

Schließlich sind auch Energie- und Klimapolitik Bereiche für die CP. Das könnte eine Teilnahme am Europäischen Emissionshandelssystem mit sich bringen, die Koordination von CP-Standpunkten bei internationalen Klimaverhandlungen und die Teilnahme an einer Energiegewerkschaft, sollte diese voranschreiten.

Der dritte Bereich der CP-Politik sollte aus einer aktiven Rolle in Außen-, Sicherheits- und Verteidigungsangelegenheiten bestehen. Russlands Annexion der Krim und das militärische Eindringen in die Ostukraine sind keine bilateralen Angelegenheiten, sondern bedrohen Europas friedliche Ordnung als Ganzes. Diese neue Ausgangslage ist nicht nur für die EU-Länder eine Herausforderung.

Dasselbe gilt für die Wirren im Nahen Osten und in Nordafrika. Die Wechselwirkungen der Konflikte in diesen Regionen auf Europa suchen in jüngster Vergangenheit ihresgleichen.

Kein europäischer Staat wird alleine imstande sein, diese zu meistern oder zukünftigen Gefahren im Alleingang entgegenzutreten. Die CP sollte als Forum dienen und ein aktiver Teilnehmer an der Außensicherheits- und Verteidigungspolitik sein.[11] Justiz und Sicherheitsangelegenheiten sind eine gemeinsame EU-Zuständigkeit, was bedeutet, dass es sich nicht um eine reine zwischenstaatliche Aufstellung handelt und EU-Institutionen formale Rollen innehaben. Das wirft schwierige, aber hoffentlich überwindliche Rechtsfragen auf, wie die CP-EU-Zusammenarbeit strukturiert werden sollte.[12] Das Vereinigte Königreich, eines der zwei ständigen europäischen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats und eines der derzeitigen EU-Mitglieder, die Streitkräfte nach Übersee verlegen können, wird ein wichtiger Partner bei diesen Angelegenheiten bleiben. Die Europäer können und dürfen sich nicht alleine auf die USA als Garant der europäischen Sicherheit verlassen. Der Kalte Krieg ist zu Ende, der Pazifikraum nimmt an Bedeutung zu, neue Bedrohungen in Form von Cyber-Konflikten und Terrorismus sind aufgetaucht und die US-Politik wird in der nächsten Zeit wahrscheinlich mit ihren eigenen inneren Herausforderungen beschäftigt sein. Aus diesem Grund sind wir der Überzeugung, dass engere Zusammenarbeit in diesem Bereich von Bedeutung und mittelfristig unvermeidbar ist, wenn Europa imstande sein soll, angemessen auf Bedrohungen zu reagieren.

Geografischer Geltungsbereich

Ein Vorteil der vorgeschlagenen Kontinentalen Partnerschaft ist die Flexibilität ihres Führungsmodells. In ihrem Kern besteht sie aus der Teilnahme am EU-Rechtssetzungsprozess durch den CP-Rat, während sie gleichzeitig die ultimative Zuständigkeit der EU und die Einhaltung von gemeinsam vereinbarten Vorschriften oder Minimalstandards akzeptiert. Ihre Natur ist somit zwischenstaatlich. Die Kontinentale Partnerschaft könnte somit für andere europäische Länder offen sein, die sich anschließen wollen.

Es ist wichtig, die Flexibilität der CP im wirtschaftlichen Bereich nicht zu überdehnen. Die zentrale Frage hier ist ein Wegbewegen von der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die CP sollte aber in Bezug auf die Bereiche Sicherheits- und Verteidigungspolitik und potenziell auch in Sachen äußerer Wirtschaftsbeziehungen flexibel sein. Da Sicherheits- und Verteidigungspolitik zum Kernbereich der nationalen Souveränität gehören, können wir uns vorstellen, dass einige CP-Mitglieder an der gemeinsamen Sicherheitspartnerschaft teilnehmen, andere wiederum nicht.

Eine wichtige Frage betrifft die Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), die nicht Mitglieder der EU sind (Island, Liechtenstein und Norwegen). Diese drei Länder nehmen vollwertig am Binnenmarkt teil, haben aber kein wesentliches Mitspracherecht beim Gesetzgebungsprozess des Binnenmarkts. Wir könnten uns vorstellen, dass diese drei EWR-Länder das Recht haben würden, der CP beizutreten, wenn sie es wünschten.[13] Wir betrachten die CP ebenfalls als attraktives Modell für die Schweiz, nachdem sie die Freizügigkeit einschränken will – aber, als Pendant zum Beitritt zur CP den vollständigen Satz an Binnenmarktverordnungen in anderen Bereichen übernehmen müsste.

Die Schaffung einer Kontinentalen Partnerschaft könnte auch eine Grundlage für faire Verhandlungen mit der Türkei sein.[14] Einer der Gründe, warum einige EU-Mitgliedstaaten die Türkei wohl nie als Mitglied in die EU aufnehmen würden, ist die Freizügigkeit und mehr noch, die politische Natur der EU. Die Beziehungen mit der Türkei im Sinne eines EU-Assoziationsabkommens waren deshalb immer schwierig. Vorausgesetzt, es gibt einen gemeinsamen Willen, die Partnerschaft zu stärken, und vorausgesetzt, dass wesentliche politische Bedingungen erfüllt werden, betrachten wir es als positiv und vielleicht sogar wünschenswert auf mittlere oder lange Sicht auf eine Miteinbeziehung der Türkei in die Kontinentale Partnerschaft hinzuarbeiten. Der Türkei die Aussicht auf eine strukturierte Partnerschaft mit der EU zu geben, in der sie über eine Stimme verfügt, könnte dazu beitragen, das Abdriften von Demokratie und damit verbundenen Werten aufzuhalten.

Auf längere Sicht könnte die CP auch einen Rahmen für gestärkte Beziehungen mit EU-Nachbarn im Osten bieten (Ukraine). Es ist eine offene Frage, ob ein ähnliches Modell für die Beziehungen zu den Nachbarn im Süden (Marokko, Tunesien) verwendet werden kann. Und wiederum könnte der zwischenstaatliche Charakter der Partnerschaft und der Ausschluss der Arbeitnehmerfreizügigkeit dazu beitragen, existierende Stolpersteine aus dem Weg zu räumen.

Der Beitritt zur CP würde die Erfüllung bestimmter Kriterien bedingen, die durch transparente Verfahren festgelegt werden. Für das Vereinigte Königreich sollten die Verhandlungen über seine Teilnahme an der CP parallel mit den EU-Austrittsverhandlungen stattfinden, um unnötige und gegenseitige schädliche Störungen zu verhindern. EWR-Mitglieder können sich ebenfalls für die CP qualifizieren. Andere Länder müssten dem notwendigen rechtlichen Besitzstand entsprechen, um zur CP zugelassen zu werden. Es sollte auch eine Definition gemeinsamer Werte der CP geben, einschließlich Angelegenheiten wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

Schlussfolgerungen

Die britische Abstimmung zum Austritt aus der EU bezeichnet eine wesentliche konstitutionelle Wende für das Vereinigte Königreich und einen bedeutenden Bruch für die EU. Unser Vorschlag ist, diesen Bruch in eine Chance zu verwandeln und Europa in zwei Kreisen neu zu organisieren. Der innere Kreis stellt die EU mit ihren politischen Zielen und übernationalen konstitutionellen Strukturen dar. Der äußere Kreis eine europäische Zusammenarbeit, an der auch Länder beteiligt sind, die sich nicht in der EU befinden, würde über mehr Flexibilität verfügen und auf einer zwischenstaatlichen Struktur, der Kontinentalen Partnerschaft, basieren. Noch wichtiger ist, dass die CP-Länder nicht an der Arbeitnehmerfreizügigkeit beteiligt würden, würden nicht die politische Verpflichtung teilen, eine stetig engere Union zu werden und würden weniger politischen Einfluss auf Entscheidungen von gemeinsamen Interessen haben.

Unser Vorschlag verlangt dem Vereinigten Königreich und der EU schwere Entscheidungen ab. Das Vereinigte Königreich muss die Frage beantworten, ob es weiterhin eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU aufrecht erhalten will, und es sein Engagement in Sicherheits- und möglicherweise Verteidigungsfragen aufrecht erhalten und potenziell vielleicht stärken möchte. Das ist letzten Endes eine politische Entscheidung, die eindeutig ausgesprochen werden muss.

Die EU muss unter ihren Mitgliedstaaten übereinkommen, strafende Motive zurückstellen und einen wirtschaftlichen Kompromiss finden, der eine Kontrolle der Arbeitnehmermobilität für das Vereinigte Königreich ermöglicht, während für das Land weiterhin der Zutritt zum und die Teilnahme an wichtigen Teilen des Binnenmarkts möglich ist. Dies ist eine politische Entscheidung, bezüglich welcher Klarheit geschaffen werden muss. Die EU-Länder müssen ebenfalls darüber nachdenken, ob dieses Model für andere Nachbarländer angebracht wäre.[15]

Schließlich sollte unser Vorschlag mit einer gestärkten EU und einer gestärkten Eurozone kombiniert werden. Die eigene Struktur effizienter zu machen und die politische Legitimität zu erhöhen, ist nicht nur um den eigenen Willen der EU wünschenswert, sondern auch für die politische Stabilität Europas mit ihren verschiedenen Ebenen der Zusammenarbeit essentiell. Wir betrachten die Vertiefung der Eurozone und die Schaffung einer Kontinentalen Partnerschaft, woraus sich konzentrische Kreise ergeben würden, als sich ergänzende Gegenstücke, die im Interesse des Vereinigten Königreichs und der EU stehen.

Unser Vorschlag ist vom festen Glauben getrieben, dass weder die EU und ihre Mitgliedstaaten noch das Vereinigte Königreich ein Interesse an einer Eskalation der Spannungen hat oder einer kostspieligen Loslösung nach dem Brexit. Weder das Vereinigte Königreich noch die verbleibenden Mitglieder der EU können ihren geographischen Wechselbeziehungen entkommen. Beide sind wirtschaftlich an ökonomischer und politischer Stabilität in Europa interessiert. Die heutige wankelmütige und gefährliche Welt verlangt von den Nationen zusammen zu arbeiten, um neuen und vielfältigen Herausforderungen gewachsen zu sein. Die langfristigen Aussichten auf eine zukünftige Welt, in der Europa nur eine unter vielen leistungsstarken Regionen ist, verlangen dasselbe.

Der Brexit ist Realität geworden. Er bringt Risiken mit sich. Er kann in eine Chance gewandelt werden. Wir hoffen, dass unser Vorschlag ein Bezugspunkt, ja eine Vision sein kann für die zweifelhaft schwierigen Verhandlungen, die bevorstehen.

Referenzen

Allen and Overy (2016) 'Implications of EEA membership outside the EU-different name, same game?' [‚Auswirkungen einer EWR-Mitgliedschaft außerhalb der EU - anderer Name, gleiches Spiel?'], abzurufen hier

Darvas, Zsolt (2016) 'Brexit vote boosts case for inclusive growth' [‚Brexit-Abstimmung steigert Chancen für integratives Wachstum'], Blog Post, Bruegel

Dustmann, Christian and Tommaso Frattini (2013) 'The Fiscal Effects of Immigration to the UK' [‚Die steuerlichen Auswirkungen der Immigration auf das Vereinigte Königreich'], CDP No 22/13, Centre for Research and Analysis of Migration

Juncker, Jean-Claude (2016a) ‚Rede von Präsident Jean-Claude Juncker auf der EP-Plenarsitzung über die Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates am 28. Juni 2016 und dem informellen Gipfel der 27 EU-Staats- oder Regierungschefs am 29. Juni 2016', Tagung des Europäischen Rates

May, Theresa (2016), Speech on Brexit [Rede zum Brexit], 25. April 2016, abzurufen unterhttp://www.conservativehome.com/parliament/2016/04/theresa-mays-speech-on-brexit-full-text.html

Office for National Statistics (2016) 'EMP06: Employment by country of birth and nationality' [‚EMP06: Beschäftigung nach Geburtsland und Nationalität'], abzurufen hier

Petropoulos, Georgios (2016) 'Brexit and competition policy in Europe' [‚Brexit und Wettbewerbspolitik in Europa'], Blog Post, Bruegel

Pisani-Ferry, Jean, André Sapir and Guntram Wolff (2010) 'The messy rebuilding of Europe' [‚Der chaotische Wiederaufbau von Europa'], Policy Brief 2012/03, Bruegel

Prodi, Romano (2002, Dezember) 'A Wider Europe-Proximity Policy as the key to stability' [‚Das größere Europa - eine Politik der Nachbarschaft als Schlüssel zur Stabilität'], Rede auf der 6. ECSA-Weltkonferenz.

Sampson, Thomas, Swati Dhinigra, Gianmarco Ottaviano and John Van Reenen (2016) "How 'Economists for Brexit' manage to defy the laws of gravity" [„Wie die ‚Ökonomen für den Brexit' den Gesetzen der Schwerkraft trotzen"], Centre for Economic Policy Research

Sapir, André (2016) 'Should the UK pull out of the EU customs union?' [‚Soll das Vereinigte Königreich aus der EU-Zollunion austreten?'], Blog Post, Bruegel

Sapir, André and Guntram Wolff (2016) 'One market, two monies: the European Union and the United Kingdom' [‚Ein Markt, zwei Währungen: die Europäische Union und das Vereinigte Königreich'], Policy Brief 2016/01, Bruegel

Sapir, André and Guntram Wolff (2014) 'The Great Transformation: Memo to the Incoming EU Presidents' [‚Die große Verwandlung: Memo für die kommenden EU-Präsidenten'], Policy Brief 2014/04, Bruegel

Schoenmaker, Dirk (2016) 'Lost passports: a guide to the Brexit fallout for the City of London' [‚Verlorene Pässe: Ein Leitfaden zum Brexit-Fallout für die Stadt London'], Blog Post 2016/06, Bruegel

Wadsworth, Jonathon, Swati Dhingra, Gianmarco Ottaviano and John Van Reenen (2016), 'Brexit and the Impact of Immigration on the UK' [‚Brexit und die Auswirkungen der Immigration auf das Vereinigte Königreich'] Brexit Analysis No. 5, London: Centre for Economic Performance

Wikipedia (2016) ‚EFTA-Gerichtshof', abzurufen unter https://de.wikipedia.org/wiki/EFTA-Gerichtshof

Wren-Lewis, Simon (2016) 'A divided nation' [‚Eine geteilte Nation'], Blog Post, Mainly Macro.

[1] Dieser Artikel ist das Ergebnis eines Dialogs zwischen den fünf Autoren in diesem Sommer. Er wird gleichzeitig in London, Brüssel, Berlin und Paris unter der alleinigen Verantwortung der Autoren veröffentlicht, die ihn als Privatpersonen verfassen. Jean Pisani-Ferry ist Generalkommissar bei France Stratégie und Professor an der Hertie School of Governance, Norbert Röttgen ist Mitglied des deutschen Bundestags, André Sapir ist Professor für Wirtschaftswissenschaften und leitender Wissenschaftler bei Bruegel, Paul Tucker leitet den Systemic Risk Council und ist Wissenschaftler an der Harvard University, Guntram Wolff ist der Direktor von Bruegel. ©Autoren.

[2] Beim Wechsel vom Handel mit der EU zum Handel mit anderen, entfernteren Ländern werden wegen des Gravitationsgesetzes im internationalen Handel Kosten entstehen.

[3] Island, Liechtenstein, Norwegen.

[4] Unser Vorschlag ist eng an die Vision angelehnt, die Romano Prodi 2002 zum Ausdruck brachte, als er Präsident der Europäischen Kommission war. Präsident Prodi wollte „einen ‚Freundeskreis' sehen, der die Union und seine engsten europäischen Nachbarn umgab, der von Marokko bis Russland und zum Schwarzen Meer reichte" und der „alles mit der Union teilte außer Institutionen" (Prodi, 2002).

[5] Daten vom 1. Quartal 2016 (Office for National Statistics, 2016). Diese Zahl ist von 752.000 im Jahr 2003 angestiegen (vor der EU-Erweiterung). Einwanderer ins Vereinigte Königreich haben einen deutlichen Nettobeitrag zu den Staatsfinanzen und zum Wirtschaftswachstum geleistet (Dustman und Frattini, 2013; Wadsworth et al, 2016).

[6] Eine Mobilität der Arbeitskräfte ist wirtschaftlich wünschenswert, denn die Arbeitnehmer können an die Orte ziehen, wo ihre Produktivität am höchsten ist. Es ist auch gesellschaftlich wünschenswert, denn es stellt eine fundamentale persönliche Freiheit dar, dort zu arbeiten, wo man möchte.

[7] Wir widersprechen aus diesem Grund der aktuellen Ansicht des Präsidenten der Europäischen Kommission (Juncker, 2016).

[8] Unser Vorschlag geht deshalb weit über die Teilnahme von Staaten des EWR wie Norwegen hinaus, die sich im Gemeinsamen EWR-Ausschuss auf Botschafterebene sechs Mal im Jahr treffen, ohne großen Einfluss auf den Rat der EU zu haben.

[9] Für eine detaillierte Diskussion siehe Allen and Overy, (2016).

[10] Wir nehmen an, dass die EU eine gemeinsame Migrationspolitik festlegen wird. Wir lehnen ein Quotensystem ab, bei dem das Vereinigte Königreich Quoten für die einzelnen EU-Länder festlegen würde.

[11] Theresa May erklärte in ihrer Rede vom 25. April 2016 als Innenministerin, dass das Vereinigte Königreich in der EU von Fragen wie dem Europäischen Haftbefehl profitieren würde, der es dem Vereinigten Königreich ermöglichte, 675 Verdächtige oder verurteilte Straftäter vor Gericht zu stellen. Er wurde auch dazu verwendet, um Terrorverdächtige zu identifizieren. Die CP sollte wohl einen Weg finden, um diese nützliche Zusammenarbeit in Übereinstimmung mit den EU-Gesetzen fortzusetzen.

[12] Angelegenheiten der Rechtsprechung und Sicherheit sind in der EU formal eine gemeinsame Zuständigkeit: EU-Mitgliedstaaten können keine Kompetenzen ausüben in Bereichen, in denen die Union sie ausgeübt hat. Es ist vorstellbar, dass die EU in diesem Bereich in den kommenden 10 Jahren bedeutend fortschreiten möchte, es somit zu einer gemeinschaftlichen Aufgabe macht. Das würde politische und rechtliche Fragen für die Zusammenarbeit über die CP aufwerfen.

[13] Besondere Besitzstandsbestimmungen könnten notwendig sein, die es den Ländern erlauben, weiterhin Vollmitglieder hinsichtlich aller Elemente des Binnenmarkts zu sein und somit weiterhin an der Arbeitnehmerfreizügigkeit teilzunehmen.

[14] Bezüglich eines Vorschlags zur Einbeziehung der Türkei in einen weiter gefassten Kreis, siehe Sapir and Wolff (2014).

[15] In unserer Diskussion lassen wir die bereits variable Geometrie innerhalb der EU beiseite, insbesondere die Unterscheidung zwischen Eurozone und EU. Diese Unterscheidung wird wohl nach dem Brexit an Bedeutung gewinnen, da die nicht dem Euro-Währungsgebiet angehörenden Länder nur15 % zum EU-BIP beitragen werden. Ihre Bedeutung wird durch eine weitere Integration innerhalb der Eurozone ebenso wachsen