Die Welt: Der gescheiterte Militärputsch sei ein "Geschenk Allahs", sagt der türkische Staatspräsident Erdogan. Wie haben wir das zu verstehen, Herr Röttgen?
Norbert Röttgen: Das hat zu bedeuten, dass Staatspräsident Erdogan den Putsch ausnutzen wird, um seine Macht im Staat weiter auszudehnen und zu festigen, vor allem durch Ausschaltung von Kontrolle und Opposition. Die Entlassung von fast 3000 Richtern am Tag danach ist dafür ein erstes massives Beispiel. Und die Berufung auf Allah ist kein Zufall, sondern Teil der Legitimität, die Erdogan als Bestandteil seiner Machtpolitik in Anspruch nimmt.
Die Welt: Wie lässt sich verhindern, dass sich die Türkei nun noch stärker Richtung Autokratie entwickelt?
Röttgen: Auf diesem absehbaren Weg gibt es von außen – unter Einschluss der USA – relativ wenig Einflussmöglichkeiten, wie schon die vergangenen Monate gezeigt haben. Aber das haben wir in der Hand: unsere Prinzipien zu vertreten und nichts zu tun, was diesen Weg im Ergebnis befördern würde.
Die Welt: Bilateral sind die Beziehungen ohnehin schwierig. Aus Verärgerung über die Armenien-Resolution des Bundestags lässt Erdogan deutsche Parlamentarier nicht nach Incirlik reisen, um die Bundeswehr zu besuchen. Ist das ein tolerables Verhalten eines Nato-Partners?
Röttgen: Das ist nicht zu tolerieren. Es ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich der türkische Staatspräsident von unseren Grundvorstellungen von parlamentarischer Demokratie und öffentlicher Kontrolle immer weiter entfernt. Der Fall muss nicht nur bilateral, sondern innerhalb der Nato besprochen werden. Die Nato ist eine Wertegemeinschaft. Hier werden Werte verletzt, und darüber muss man unter Bündnispartnern reden.
Die Welt: Beim Nato-Gipfel vor einer Woche in Warschau ist das nicht thematisiert worden. Da musste die Kanzlerin allein mit Erdogan reden – und blitzte ab.
Röttgen: Das ist bedauerlich. Wenn sich die Nato insgesamt die Kritik zu eigen machen würde, könnten wir mehr Wirkung erzielen.
Die Welt: Bundestagspräsident Norbert Lammert sagt, im Zweifel müssten die in Incirlik stationierten Soldaten abgezogen werden. Sehen sie das ähnlich?
Röttgen: Nein, ein Abzug aus der Türkei wäre ein Fehler. Rückzug ist keine Gestaltung. Außerdem sind die Soldaten zu einem bestimmten sicherheitspolitischen Zweck da, der ja nicht wegfällt. Auch an den Nato-Plänen für eine Mission mit Awacs-Aufklärungsflugzeugen sollten wir deshalb festhalten, weil es ein substanzieller Beitrag ist, die vom IS ausgehende Terrorgefahr zu bekämpfen. Das falsche Verhalten Erdogans kann kein falsches Verhalten auf unserer Seite begründen.
Die Welt: Der Terror von Nizza hat Europa einmal mehr seine Verwundbarkeit vor Augen geführt. Der Täter ist Tunesier, lebte in Frankreich. Was leitet sich daraus für die Außenpolitik Deutschlands oder Europas ab?
Röttgen: Die europäische Politik muss präventiv gegenüber der Gefahr des Terrorismus werden. Das heißt, wir müssen statt einer nationalen eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten entwickeln. Das braucht langen Atem und viel mehr Ressourcen – aber es ist unverzichtbar.
Die Welt: Diese Außenpolitik wirkt unvollständig, solange Russland daran nicht beteiligt ist. Erzwingt die Terror-Bedrohung ein besseres Verhältnis zu Russland?
Röttgen: Es wäre sicher erstrebenswert, Russland für den gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus zu gewinnen. Die Realität sieht aber leider anders aus. Gegenwärtig spielt das militärische Eingreifen Russlands an der Seite Assads gegen dessen sunnitische Opposition der Propaganda der Terroristen in die Hände. Diese lebt stark vom Opfer-Narrativ, das sowohl den Irak-Krieg der Amerikaner im Jahr 2003 als auch den heutigen Krieg Russlands in Syrien als Legitimation heranzieht, Gewalt mit Gewalt zu beantworten.
Die Welt: Die Bundesregierung stuft Russland nicht mehr als Partner, sondern als Herausforderung für die europäische Sicherheit ein. So steht es im neuen Weißbuch. Sie waren gerade in Moskau: Wurden Sie darauf angesprochen?
Röttgen: Nein, das ist auch gar nicht nötig. Beiden Seiten ist mittlerweile ausreichend bewusst, dass sich unsere Beziehungen und die Lage in Europa insgesamt durch die neue russische Politik der Stärke grundlegend verändert haben.
Die Welt: Fürchten Sie durch den Beschluss der Nato, Truppen in Osteuropa zu stationieren, den Beginn einer neuen Rüstungsspirale?
Röttgen: Der Nato-Gipfel hat in Russland die erwartet scharfe öffentliche Reaktion gefunden. Aber er wird intern nach meiner derzeitigen Wahrnehmung nicht zum Anlass für neue militärische Entscheidungen genommen. Ich sehe auf beiden Seiten kein Interesse an einer Aufrüstungsspirale.
Die Welt: Polen und Balten fühlen sich durch Russlands Aggression in der Ukraine bedroht, Moskau sieht sich von der Nato umzingelt. Lassen sich diese Wahrnehmungen durch Dialog auflösen?
Röttgen: Wir werden für lange Zeit Interessengegensätze und eine Entfremdung haben. Das Kernproblem ist Russlands Schwäche. Diese Schwäche hatte in russischer Wahrnehmung mit Boris Jelzin einen innenpolitischen Höhepunkt erreicht. Und sie hat außenpolitisch einen Höhepunkt erreicht, als sich die Ukraine normativ entschieden hat, sich von Russland abzuwenden. Beides, verbunden mit der mangelnden Perspektive ökonomischer Modernisierung, hat zu der neuen Machtpolitik geführt, die in der Annexion der Krim und der Aggression in der Ostukraine gipfelte. Dieser Versuch, faktische Schwäche mit einer Politik der Stärke zu kompensieren, ist durch Dialog erst mal nicht aus der Welt zu schaffen. Ungeachtet dessen ist Dialog unverzichtbar und muss geführt werden.
Die Welt: Trägt der Westen eine Mitschuld an der Eskalation?
Röttgen: Schuld ist die falsche Kategorie. Es gibt sicher Versäumnisse. Wir haben es vor allem verpasst, die russische Schwäche bei den EU-Verhandlungen mit der Ukraine in Rechnung zu stellen. Ob sich die historischen Prozesse bei größerem Einfühlungsvermögen anders entwickelt hätten, müssen irgendwann Historiker beurteilen.
Die Welt: Nun hat Präsident Wladimir Putin die Kanzlerin und Frankreichs Staatschef François Hollande zur Intervention aufgefordert, weil im Donbass gekämpft wird. Ist das zynisch – oder hat es einen wahren Kern, dass auch die Ukraine den Minsk-Prozess verzögert?
Röttgen: Es ist vor allem zynisch. Natürlich, auch an der ukrainischen Politik gibt es Kritikpunkte. Aber was das Minsker Abkommen anbelangt, weiß Putin ganz genau, dass er den Schlüssel in Händen hält. Wenn er die Rebellen an die Leine nehmen und für einen Waffenstillstand sorgen würde, würde es Kiew ermöglichen, seinerseits zu erfüllen. Ohne Ruhe in der Ostukraine aber ist es für Poroschenko schwer, seinen Verpflichtungen nachzukommen und zum Beispiel im Parlament ein neues Wahlgesetz zu verabschieden. Dennoch müssen wir an die Ukraine appellieren, dass kein Zweifel an ihrem Willen aufkommen darf, das Minsker Abkommen zu erfüllen. Dafür könnte die Regierung ein Wahlgesetz erlassen, aber die Durchführung von der russischen Sicherheitskooperation abhängig machen. Sonst sagt die internationale Öffentlichkeit irgendwann: Beiden Seite sind gleich, obwohl sie es nicht sind, denn der Konflikt ist von Russland initiiert worden.
Die Welt: In der Ukraine gibt es nach den Worten der Kanzlerin "bis heute keinen einzigen Tag Waffenstillstand". Ist das Minsker Abkommen das Papier wert, auf dem es steht?
Röttgen: Ich möchte daran erinnern, dass vor dem Abkommen an die zehntausend ukrainische Soldaten eingekesselt waren und durch das Abkommen ein Blutvergießen verhindert wurde. Das ist das große humanitäre Verdienst dieser Verhandlungen. Weil das Abkommen aber die damaligen Machtverhältnisse abbildet, war ich immer skeptisch, dass es der Weg zu einem Ausgleich sein kann. Aber Minsk hat sich verselbstständigt, es ist jetzt die Basis, auf der gearbeitet werden muss.
Die Welt: Obwohl das Abkommen nicht erfüllt ist, wird in SPD und CSU schon die Debatte geführt, die Sanktionen zurückzufahren…
Röttgen: In der CDU wird diese Debatte nicht geführt. Aus guten Gründen. Die Sanktionen sind das Instrument des Westens, die eigene Ge- und Entschlossenheit zu demonstrieren. Wir antworten auf militärische Gewalt nicht mit Gegengewalt. Aber wir zeigen, dass wir eine fundamentale Völkerrechtsverletzung nicht akzeptieren. Also müssen wir zu der vernünftigen Linie, die wir gefunden haben, auch stehen. Der Abbau der Sanktionen setzt eine Änderung der russischen Politik voraus. Solange es die nicht gibt, ist die Diskussion über eine Aufhebung schlicht deplatziert.
Die Welt: Die SPD scheint bereit, eine andere Russlandpolitik zum Wahlkampfthema zu machen. Auch einige europäische Länder wackeln. Sehen Sie die Geschlossenheit gegenüber Moskau gefährdet?
Röttgen: Es ist fester Bestandteil der russischen Außenpolitik, die Einheit des Westens durch Einwirkung auf die öffentliche Meinung und andere Winkelzüge zu untergraben. Bislang hat diese Einheit aber Bestand. Denn bei allen Differenzen wissen alle, dass jeder Einzelne allein zu schwach ist gegenüber Russland. Was die SPD angeht: Es ist unübersehbar, dass sie das Verhältnis zu Russland zu einem wichtigen Thema des Wahlkampfes machen wird und dabei andere Akzente setzt. Wahr ist aber auch: Die Regierungspolitik ist auch die der SPD. Sie würde also im Nachhinein Wahlkampf gegen ihre eigene Politik betreiben. Das ist nicht sehr glaubwürdig.
Die Welt: Appeasement gegenüber Russland scheint in der deutschen Öffentlichkeit aber recht populär. Viele empfinden den Umgang mit dem Land als ungerecht. Die SPD könnte also durchaus auf offene Ohren treffen ...
Röttgen: Sympathie für Russland habe ich auch. Und natürlich wollen wir Russland wieder als einen Teil der europäischen Friedensordnung zurückgewinnen. Aber um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir Realitätssinn. Die naive Versuchung zu befördern, mit etwas mehr Verständnis für Putin werde alles wieder gut, halte ich für unverantwortlich.
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