EUROPA IN DER KRISE

16.02.2016
Pressemitteilung

Deutschland muss Initiative ergreifen

Wer wissen will, wie es gegenwärtig um Europa steht, muss in den Nahen Osten schauen.

Russland hat durch rücksichtslosen militärischen Einsatz das Heft des Handels fest in der Hand. Russland torpediert Friedensbemühungen, bombardiert die Bevölkerung, diktiert allen seinen Willen und generiert Flüchtlinge, zehntausende, vielleicht hunderttausende. Die Menschen sterben und leiden. Auch Russland wird am Ende bezahlen. Gewinner ist der IS, in dessen Arme die Verzweiflung mehr und mehr Sunniten in der Region treibt. Europa ist betroffen vom Schicksal dieser Menschen, erlebt mit der Flüchtlingskrise eine bislang ungekannte Herausforderung und scheint gleichzeitig machtlos. Die Flüchtlingskrise ist dabei nur eine Dimension der inneren Krise der EU, die eine Krise der Solidarität und damit lebensbedrohlich ist. Die anderen beiden Europa spaltenden Themen sind der Streit um die Wirtschaftspolitik - Stichwort „Austerität“ - sowie zu einem gewissen Grad die Russlandpolitik von Energiepolitik bis zu der Frage der Sanktionen. Im Zentrum aller dieser Spaltthemen steht Deutschland. Dies festzustellen, beinhaltet kein Urteil darüber, ob sich die deutsche Politik inhaltlich jeweils auf gute Argumente berufen kann. Aber: Es geht nicht mehr um Recht haben, dafür ist die Lage inzwischen zu ernst. Wir brauchen jetzt einen großen Kompromiss, der Europa wieder handlungsfähig macht - denn genau das sind wir nicht mehr. Europa wird von außen so sehr herausgefordert wie nie zuvor und ist im Innern in einer so schlechten Verfassung wie seit den Römischen Verträgen nicht. Teilkompromisse in den einzelnen Streitfragen sind lange versucht worden. Notwendig ist ein Gesamtkompromiss, bei dem alle geben und nehmen. Nur so kann in der jetzigen Lage umfassend Solidarität praktiziert und Handlungsfähigkeit wieder hergestellt werden. Verbunden werden müssen Solidarität mit Frankreich und Italien in der Frage der Wirtschaft, Solidarität mit Polen und den östlichen Mitgliedstaaten in der Frage der Sicherheit vor russischem Einflussstreben und Solidarität mit Deutschland in der Flüchtlingsfrage. Konkret heißt das: Deutschland gibt seinen Widerstand gegen höhere Haushaltsdefizite in den Ländern, die wie Frankreich und Italien unter geringem Wachstum und vor allem sehr hoher Jugendarbeitslosigkeit leiden, auf. Diese Länder sollen im Gegenzug wirtschaftliche Reformmaßnahmen, vor allem zugunsten eines flexiblen Arbeitsmarktes verabschieden. Am Ende würde übrigens auch Deutschland von einem solchen wirtschaftspolitischen Kompromiss in Europa erneut profitieren. Im Verhältnis zu Polen und den östlichen Mitgliedstaaten wird zugestanden, das Gaspipelineprojekt Nord Stream II mit Gazprom auf die Vereinbarkeit mit den Zielen der europäischen Energiepolitik und dem Interesse an Versorgungssicherheit der bisherigen Gastransitländer zu überprüfen. Eine stärkere symbolische NATO-Präsenz mit rein defensiver Ausstattung auf polnischen Territorium ist ebenfalls zu prüfen. Die Sanktionen gegenüber Russland werden erst dann aufgehoben, wenn Russland seine Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen erfüllt hat und so die Kontrolle der ostukrainischen Grenze durch die Ukraine wiederhergestellt worden ist. Im Gegenzug wird die Flüchtlingskrise von allen als gemeinsame europäische Herausforderung anerkannt und nicht als deutsches Problem. Die europäische Antwort auf diese Krise besteht aus drei Elementen: Erstens aus einer gemeinsamen umfassenden Flüchtlingsaußenpolitik, die deutlich mehr finanzielle Ressourcen zur humanitären und wirtschaftlichen Stabilisierung von bestimmten Ländern im Nahen Osten wie z.B. Jordanien erfordert. Zweitens in der Sicherung der gemeinsamen Außengrenze als gemeinsame europäische polizeiliche Aufgabe. Drittens erfolgt auf der Basis von gemeinsamen Kriterien für die Anerkennung die Verteilung von Flüchtlingen auf die europäischen Staaten verbunden mit einer sanktionierten Residenzpflicht. Die Verletzung der Residenzpflicht macht den Aufenthalt illegal und führt zum Verlust sozialer Ansprüche. Dieses Konzept steht allen Mitgliedstaaten offen. Es macht klar, dass der Verzicht auf Binnengrenzen verbunden ist mit der Sicherung der Außengrenzen und der Verteilung von Flüchtlingen im Inneren. Es ist nicht durchhaltbar, wenn Mitgliedstaaten die Vorteile offener Binnengrenzen für sich nutzen, aber die Lasten daraus auf einige wenige Staaten abschieben wollen. Das kann zu einem kleineren Schengen-Raum führen, als wir ihn bislang genießen, aber das wäre dann unvermeidlich. Aus deutscher Sicht ist der Kompromiss in den anderen Fragen gerade deshalb geboten, um sich auch hierauf einigen zu können und den Kreis der teilnehmenden Staaten möglichst groß und in jedem Fall offen zu halten.

Der gegenwärtige Stillstand in Europa muss überwunden werden. Das ist das Interesse aller. Nach Lage der Dinge kann die Initiative zu einem großen Kompromiss nur von Deutschland ausgehen. Deutschland muss diese Initiative ergreifen!

Handelsblatt Gastbeitrag