"Russland geht es um das bewusste Töten von Menschen"

11.02.2016
Interview

DIE WELT

CDU-Außenpolitiker Röttgen wirft Russland in Syrien "menschenverachtenden Zynismus" vor. Wegen des Flüchtlingsstroms müssten Deutschland und die betroffenen EU-Länder zur Not ein Kern-Schengen bilden. Von Thorsten Jungholt

Die Welt: Herr Röttgen, Außenpolitik bedeutet auch, die Welt mit den Augen der anderen zu sehen. Aus Sicht der Türkei sieht es derzeit so aus: Europa verlangt von Ankara, Zehntausende weiterer Flüchtlinge aus Syrien ins Land zu lassen. Gleichzeitig soll die Türkei die Grenze zur EU abriegeln. Eine ziemliche Doppelmoral, oder?

Norbert Röttgen: Der Blick aus türkischer Perspektive legt in der Tat die Widersprüchlichkeit der europäischen Politik offen: Wir verlangen etwas von der Türkei, was wir Europäer selbst als nicht möglich ansehen. Das zeigt, dass wir noch immer keine konsistente Antwort auf das Flüchtlingsthema gefunden haben. Leider.

Die Welt: Sie haben immer gesagt, der türkische Präsident Erdogan sei weder uneingeschränkt in der Lage noch willens, den Flüchtlingsstrom Richtung EU zu regeln. Hat sich diese Einschätzung nach dem Besuch der Kanzlerin in Ankara geändert?

Röttgen: Ich habe leider keine Anzeichen dafür wahrnehmen können, dass ich diese Einschätzung ändern könnte. Im Gegenteil. Die Türkei hat bereits rund 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, also viel mehr als die europäischen Staaten insgesamt.

Und auch die Bereitschaft, Europa zu helfen, scheint mir auf machtpolitisch motivierte Zugeständnisse begrenzt. Die Türkei ist zweifellos ein strategisch bedeutsames Schlüsselland in der Region. Aber sie ist nicht der Schlüssel zur Lösung des europäischen Flüchtlingsproblems.

Die Welt: Ein deutsch-türkischer Vorschlag lautet nun, die Nato solle in der Ägäis in den Kampf gegen Schlepper eingebunden werden. Sinnvoll?

Röttgen: Das Flüchtlingsthema ist eine Aufgabe, die Europa mit seinen Institutionen und Instrumenten lösen kann und muss. Das fängt bei einer einheitlichen und entschlossenen Außenpolitik gegenüber den Ländern in Nahost an. Es setzt sich fort bei der Sicherung der EU-Außengrenzen, die wir endlich als gemeinsame Polizeiaufgabe verstehen und wahrnehmen müssen.

Die Welt: Frau Merkel hat weiter davon gesprochen, "eine Gruppe von Ländern in der EU" solle der Türkei Kontingente von Flüchtlingen abnehmen. Wer soll das sein?

Röttgen: Ich verstehe das als Hinweis auf den nächsten EU-Gipfel. Dort wird sich erweisen müssen, ob es zu einer gemeinsamen Haltung der Schengen-Länder kommt. Das Konzept der offenen Binnengrenzen funktioniert nicht, wenn die Außengrenzen offen sind und alle Flüchtlinge am Ende nach Deutschland und einige wenige weitere Staaten kommen. Entweder kommt man endlich zu einer gemeinsamen Politik der Grenzsicherung, der Flüchtlingsverteilung und -anerkennung im gesamten Schengen-Raum.

Gelingt das nicht, wird sich das Schengen-System auf eine kleinere Zahl von Staaten reduzieren. Das wäre dann der Kreis der von Migration betroffenen Länder: Deutschland, Italien, Österreich, Benelux, die nordischen Staaten. Und Frankreich muss dabei sein. Das ist keine Drohung, sondern eine ganz logische Folge.

Die Welt: Ein solches Kern-Schengen könnte auch nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Die türkische Regierung rechnet wegen der heftigen Kämpfe in und um Aleppo mit bis zu 600.000 weiteren Hilfesuchenden. Ist es nicht an der Zeit, neu über eine Schutzzone auf der syrischen Seite der Grenze nachzudenken?

Röttgen: Ich war schon früh ein Befürworter dieser Idee. Europa und die USA hätten längst auf die Russen zugehen müssen, um sich über die Einrichtung humanitärer Zonen und den militärischen Schutz dieser Gebiete zu verständigen. Jetzt aber sehe ich diese Möglichkeit vorläufig nicht mehr.

Wir erleben eine Eskalation der Gewalt von Damaskus bis Aleppo, unter erstrangiger Beteiligung Russlands. Moskau hat sich entschieden: für Bombardements, gegen den Schutz der Zivilbevölkerung.

Die Welt: Putin bombt die Opposition zum syrischen Machthaber Assad weg, er ignoriert eine von ihm unterzeichnete UN-Resolution und schafft gemeinsam mit dem Iran militärische Fakten. Was ist das: Realpolitik? Zynismus? Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Röttgen: Es ist die Realität russischer Machtpolitik: ein brutaler, menschenverachtender Zynismus. Und ja, auch der Tatbestand eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit ist erfüllt. Neben dem bewussten Töten von Menschen geht es Moskau auch um eine bewusste Torpedierung des internationalen Friedensprozesses. Denn die Eskalation fand ausgerechnet zu dem Zeitpunkt statt, als die Vereinten Nationen mit Unterstützung der USA und Europas dabei waren, die Konfliktparteien in Wien an einen Tisch zu bringen.

Die Welt: Frustriert Sie die offenbare Machtlosigkeit der Diplomatie gegenüber dem Einsatz von militärischer Gewalt?

Röttgen: Wir dürfen uns Frustration nicht leisten, sondern müssen mit der gesamten Bandbreite von Mitteln, die Politik zur Verfügung steht, weitermachen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass Diplomatie ohne die Fähigkeit zu Hard Power manchmal nicht ausreichend ist.

Die Welt: Bleiben wir zunächst bei der Diplomatie: Neue Gesprächsmöglichkeiten gibt es in den nächsten Tagen auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Aber worüber soll man mit einem Land reden, das zunächst militärische Fakten schaffen will? Die Konferenz steht ja passenderweise unter der Überschrift "Grenzenlose Konflikte, hilflose Wächter".

Röttgen: Das ist provokativ formuliert, aber entspricht der aktuellen Lage. Dennoch bleibt es wichtig, trotz Gewalt und Terror Verhandlungsformate aufrechtzuerhalten. Wenn 30 Staats- und Regierungschefs, 70 Außen- und Verteidigungsminister zusammentreffen, dann ist das auch eine Gelegenheit, argumentativen Druck aufzubauen und die aggressive Politik Russlands mit der internationalen Meinung zu konfrontieren. Denn die ist Putin keineswegs völlig egal. Wer will schon gern der Paria sein?

Die Welt: Dann zur Hard Power: Vor zwei Jahren mahnten der Bundespräsident und zwei Minister in München eine aktivere Außenpolitik an, Deutschland solle sich "früher und substanzieller" in der Welt einbringen. Nach Ihrer Bewertung: Ist das geschehen?

Röttgen: Teils, teils. Erstens: Deutschlands Führungsrolle in der Krise um die Ukraine war von Anfang an sehr entschieden. Das ist der erste internationale Konflikt, der von einem deutschen Regierungschef in völligem Einverständnis mit allen europäischen Partnern und Washington geführt wird.

Es gab im Verlauf richtige und mutige Entscheidungen wie die Wirtschaftssanktionen, Überreaktionen wie die US-Idee von Waffenlieferungen an die Ukraine wurden verhindert. Wir bleiben an der Umsetzung des Minsker Abkommens dran, wir unterstützen die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine. Kurz: Das ist eine wirklich neue Qualität außenpolitischen Handelns Deutschlands.

Die Welt: Der Paradigmenwechsel in der Gauck-Rede lag aber eher darin, dass zu mehr internationaler Verantwortung notfalls auch militärisches Eingreifen gehört.

Röttgen: Das ist mein zweiter Punkt. Wir haben die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten, das Aufkommen des IS und die Flüchtlingskrise so lange ignoriert, bis es nicht mehr ging. Und wir müssen uns mehr einsetzen für europäische Entschlossenheit, die wir in dieser Region brauchen.

Auch wir Deutsche nehmen noch immer eine Zuschauer- und Mitläuferrolle ein. Nehmen Sie die Wiener Konferenz, die nicht von den Europäern angestoßen wurde, sondern von den USA. Die Amerikaner aber stellen uns schon lange die Frage: Habt ihr verstanden, dass ihr euch um eure eigene Sicherheit selbst kümmern müsst und nicht mehr nur an uns delegieren könnt?

Die Welt: Verstanden, sagt die Verteidigungsministerin, wegschauen sei für Deutschland keine Option. Aber sind diesen Worten Taten gefolgt?

Röttgen: Einerseits gibt es sehr viele internationale Missionen, an denen die Bundeswehr mit Ausbildung und Aufklärung beteiligt ist. Andererseits weichen wir der militärischen Frage für den für unsere Sicherheit am meisten relevanten Raum, nämlich den Nahen und Mittleren Osten, immer noch aus. Es hat eines Terroranschlages in Paris bedurft, um zu einer Beteiligung an Aufklärungsflügen in Syrien zu kommen.

Der nächste Testfall ist Libyen: Wir sehen, wie der IS sich auch dort ausdehnt. Die Terroristen schmuggeln Menschen, greifen Ölfirmen an und bauen eine Brücke zu Boko Haram in Nigeria. Mit jedem Tag, den wir zuwarten, wird der IS gefährlicher und setzt sich dort fest. Ob in Deutschland oder Europa: Eine Politik der militärischen Zurückhaltung ist richtig, aber wir müssen verstehen lernen, dass unsere Sicherheit nicht nur durch Zurückhaltung gewährleistet werden kann.

Die Welt: Ist die Bundeswehr materiell überhaupt in der Lage, als sicherheitspolitisches Instrument jenseits von Ausbildungsmissionen eingesetzt zu werden?

Röttgen: Ich habe auch zur Kenntnis genommen, dass die Bundeswehr mit den aktuellen Einsätzen an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen ist. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung. Die Schlussfolgerung lautet: Angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderungen in der Welt müssen wir neue Prioritäten im Bundeshaushalt setzen und mehr Ressourcen für den Wehretat aktivieren. Anders gesagt: Wir müssen für unsere Sicherheit mehr Geld ausgeben.