Rede zur Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren

24.04.2015

Anlässlich des 100. Jahrestages des Beginns des Völkermordes an den Armeniern diskutierte der Deutsche Bundestag über einen Antrag der Regierungskoalition, der erstmalig den Begriff des Völkermordes verwendet. Hier finden Sie finden meine Rede.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich möchte mich in meinem Beitrag auf die Frage konzentrieren, warum es so wichtig, ja warum es so notwendig ist, dass der Deutsche Bundestag in der heutigen Debatte und fortan über den und vor allen Dingen von dem Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren spricht.

Ich glaube, dazu müssen wir uns bewusst machen bzw. bewusst zu machen versuchen, was eigentlich Völkermord ausmacht, gewissermaßen der Fragestellung nachgehen, worin das spezifische Unwesen von Völkermord liegt. Nach meiner Beobachtung geht es den Organisatoren von Völkermord regelmäßig darum, durch physische Vernichtung ein Volk für immer zum Schweigen zu bringen, es aus der Geschichte zu tilgen, sei es als Ganzes oder als Minderheit in einer Bevölkerung. Völkermord ist gewissermaßen die umfassende Negation des Rechts der physischen Existenz und der Erinnerung an ein Volk. Dieser umfassenden Negation dürfen wir nicht auch noch die Negation des Verbrechens als solches hinzufügen, meine Damen und Herren. Das dürfen wir nicht!

Vielmehr ist es ein zwingendes Gebot der Solidarität mit den Opfern und ihren Nachfahren, von dem Verbrechen als einem Völkermordverbrechen zu sprechen. Das schulden wir den Opfern und ihren Nachfahren. Gemäß diesem Verständnis ist die Bezeichnung als Völkermord darum nicht eine Möglichkeit, angemessen von den damaligen Geschehnissen zu sprechen, sondern nach meiner Überzeugung die einzige Möglichkeit einer angemessenen Sprache über die historischen Geschehnisse. In der Verwendung dieses Begriffes liegt keine Reduktion der Geschehnisse auf einen Begriff, sondern die Verwendung des Begriffes ist die Beschreibung der Dimension dessen, was stattgefunden hat. Es ist also genau andersherum.

Wenn das so ist, dann gehört zu einer ehrlichen Debatte heute allerdings auch die Frage: Warum geschieht das, auch in Deutschland, erst 100 Jahre später, erst heute? Es gehört zur Ehrlichkeit, die wir uns selbst schulden, uns mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich glaube nicht, dass das in Polemik abgehandelt werden sollte. Allerdings liegt dem ein Argument zugrunde, das ich für falsch halte, und ich möchte es aussprechen und mich damit beschäftigen. Das Argument war, dass man abwägen müsse. Zwar lägen allen die Fakten vor Augen, doch wir müssten – so lautete das Gegenargument – abwägen, da wir, wenn wir in dieser Weise in die Identität und das Identitätsgefühl der Türken eingriffen, möglicherweise keinen Beitrag zu Aussöhnung und Aufarbeitung leisteten. Das lag und liegt bei manchen womöglich noch dem Argument der Abwägung zugrunde. Ich bin der Auffassung, dass Abwägung ein Wesensprinzip demokratischer Politik ist. Dadurch unterscheidet sich demokratische Politik von extremistischen und populistischen Auffassungen. Aber, um es etwas untechnisch zu formulieren: Bei Völkermord hört die Abwägung auf, meine Damen und Herren!

Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist das universelle, nicht abwägungsfähige normative Grundbekenntnis unserer Verfassung. Es bindet uns politisch und normativ. Die Anerkennung von Völkermord ist eine Frage der Menschenwürde, meine Damen und Herren. Es widerspricht jeder Erfahrung, dass durch fortgesetztes Verschweigen ein Beitrag zum Dialog geleistet werden könnte. Alle Erfahrung belegt das Gegenteil. Auch wenn es der schwierige, schmerzhafte Schritt sein soll, wie auch wir aus unserer Erfahrung beitragen können: Mit dem Aussprechen dessen, was geschehen ist, ist die Chance auf Aussöhnung und Aufarbeitung gegeben. Dieser erste Schritt muss getan werden. Wir wissen, dass es schmerzhaft ist. Es ist nicht zu billigen, es nicht zu schildern; aber wir müssen verstehen, dass dieser Völkermord, genauer gesagt, das Bestreiten des Völkermordes für das nationale Empfinden und für die nationale Identität in der Türkei eine besondere Rolle spielt. Das macht die Schwierigkeit aus, aber wir dürfen die fehlende Aufarbeitung nicht durch Verschweigen fortsetzen, sondern müssen versuchen, einen Beitrag zu leisten.

Ich will kurz noch aus meiner Sicht betonen: All das gilt prinzipiell, aber es gilt besonders für Deutsche und Deutschland, weil es von Anfang an deutsche Mitwisserschaft gegeben hat, weil das Deutsche Reich erheblich Einfluss hätte nehmen können, um dieses Verbrechen aufzuhalten, zu behindern, zu stoppen, und weil es von Anfang an – darauf hat Professor Wolfgang Seibel vor kurzem hingewiesen – eine Komplizenschaft auch des Deutschen Reiches und Deutschlands beim Verschweigen und Vertuschen gegeben hat. Darum gibt es auch eine besondere deutsche Verantwortung. Es gab Verschweigen, Verdrängen und Vertuschen von Anfang an.

Heute beenden wir das Verdrängen und Vertuschen, aber nicht mit dem Verständnis, dass damit ein Ende gesetzt wird, sondern in dem Bemühen, dass durch das Aussprechen ein Beitrag zu einem Anfang für Aufarbeitung und Versöhnung geleistet wird. Auch 100 Jahre danach ist es nicht zu spät. Es ist überfällig, und wir versuchen, einen Beitrag dazu zu leisten.