Nicht einstimmen in den Chor der Wut

Eine "Fremde Feder" in der FAZ vom 4. Oktober 2017 zur Lage nach der Bundestagswahl

Das Ergebnis der Bundestagswahl hat für CDU und CSU zwei sehr unterschiedliche Seiten. Einerseits stellt es das schlechteste Wahlergebnis nach 1949 dar, andererseits beinhaltet es den klaren Auftrag, eine neue Regierung zu bilden und zu führen. CDU und CSU müssen schnellstmöglich ein realistisches Verhältnis zu beiden Seiten des Wahlergebnisses einnehmen und artikulieren. Fangen wir mit der ersten Seite an. Die AfD hat bei der Wahl 12,6 Prozent der Stimmen erhalten. Diese Partei lässt sich im Wesentlichen in zwei Gruppen aufteilen: Die Ewiggestrigen und die Enttäuschten. Zu Letzteren gehören unter anderen die rund eine Million Wähler, die von der Union zur AfD gewechselt sind. Diese Wähler sind wiedergewinnbar, aber hier lauert eine Falle. Diese besteht in der Annahme, wir müssten ungefähr so reden wie die Enttäuschten, dann würden sie sich auch wieder mit uns identifizieren. Natürlich heißt das zentrale Thema dieser Wähler Flüchtlinge. Aber man muss genauer hinschauen. Es ist in Wirklichkeit nicht das Thema als solches. Nur die wenigsten dieser eine Million Menschen werden eine nähere Begegnung mit einem Flüchtling gehabt und dabei negative Erfahrungen gemacht haben. Das Flüchtlingsthema wirkt vielmehr wie ein Auslösermechanismus. Die wahrgenommene Unkontrolliertheit und Fremdheit der Situation hat alle möglichen auch bereits vorhandenen Ängste, Frustrationen, Vorurteile, Gefühle der Benachteiligung usw. an die Oberfläche katapultiert, politisiert - und eine Antwort auf all das angeboten. Damit wird überhaupt nicht verkannt, dass es reale, große, langwierige und noch ungelöste Probleme in der Flüchtlingspolitik gibt. Aber das politische Phänomen von Wut und Übertreibung ist damit nicht zu erklären. Als Konsequenz folgt daraus für CDU und CSU unmittelbar, dass es nichts bringt, in den Chor von Frust- und Wut mit einzustimmen. Ein solches Verhalten würde nur das Symptom verstärken, ohne die Ursachen zu beseitigen. Die Ursachen, denen wir uns also zuwenden müssen, werfen ein enormes praktisches Problem auf: Sie sind völlig heterogen und oft noch nicht einmal politisch. Aber eines wird man sagen können: Das Bedürfnis, den Staat als Ausüber von Kontrolle und Schutz zu sehen, hat eine Schlüsselfunktion. Dem ist nicht so leicht Rechnung zu tragen, aber Fortschritte sind möglich. Ein Beispiel dafür wäre, dass jenseits aller Zuständigkeiten, die im Schwerpunkt bei Ländern und Kommunen liegen, ein gesamtstaatliches Integrationskonzept für Deutschland entwickelt wird, das aus mehr als Geld besteht und das nur unter Führung des Bundes zustande kommen wird. Angesichts der fortbestehenden Realität von Zuwanderung ist das Fehlen eines solchen Konzeptes bei den einen ein Angstfaktor, bei den anderen ein Sorgenfaktor im Hinblick auf die langfristige Stabilität unserer Gesellschaft.
Damit sind wir bei der zweiten Seite des Wahlergebnisses angelangt, dem Regierungsauftrag für CDU und CSU. Hierfür gibt es nur eine Koalitionsoption, Dass die große Koalition beendet ist, ist nicht nur für die SPD gut. Wir sollten daher schnellstens eine konstruktive und positive Sicht auf unsere einzige Regierungsperspektive finden. Rituelle Abwehrreflexe, das Bedürfnis nach Selbstgesprächen und taktisches Verhalten unterschiedlichster Art mögen verständlich sein, zeugen aber nicht von Stärke und darum sollten wir im staatlichen wie im eigenen Interesse schnellstens eine zupackende Haltung einnehmen. Worauf es ankommt, ist, für eine ganz neue Regierungsformation auch neue, gemeinsame Ansätze zu finden. Auch das ist nicht einfach, aber möglich. Beispielsweise könnte Deutschland in der festgefahrenen, aber entscheidenden, wirtschaftspolitischen Debatte mit Frankreich vorschlagen, eine gemeinsame deutsch-französische Staatsanleihe zur Finanzierung ganz bestimmter Zwecke, etwa von Innovationen im Unternehmenssektor, zu begeben. Das würde seine symbolische Wirkung in Frankreich wahrscheinlich nicht verfehlen und gleichzeitig deutschen Bedenkenträgern nicht den Schlaf rauben. Zu denken wäre auch an eine Fortentwicklung der Organisation der Bundesregierung. Nach der Katastrophe von Tschernobyl wurde das Bundesumweltministerium geschaffen. Haben wir nicht mit Digitalisierung, Migration und Integration ebenso grundstürzende Veränderungen mit systematischem Handlungsbedarf? Eine neue Bundesregierung, die diese Herausforderungen strukturell zusammenbringt und dadurch den Staat effektiver und verantwortlicher macht, ist möglich und wäre ein echter Fortschritt.

(Norbert Röttgen)