Gastbeitrag Handelsblatt: Wofür steht die CDU nach Merkel? 2. November 2018

Personeller Wettbewerb ist gut. Aber wofür steht die CDU nach Angela Merkel? Für die Überlebensfähigkeit der CDU ist eine Antwort auf diese Frage unverzichtbar. Wir müssen ein Zukunftsbild von Deutschland entwickeln, das orientierend, stützend und schützend ist in Zeiten großer Verunsicherung und integrierend ist in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Partikularisierung. Meine Ideen zur Zukunft der CDU habe ich in einem Gastbeitragfür das Handelsblatt erläutert.

GASTBEITRAG VON NORBERT RÖTTGEN

Für die Zukunft der CDU ist nicht nur der Vorsitzende entscheidend

Die CDU darf sich nicht nur personellen Fragen stellen. Auch inhaltlich muss die Partei nach Angela Merkel Zukunftsfähigkeit beweisen.

In der CDU gibt es nun personellen Wettbewerb – das ist gut. Die Frage, wer für die CDU steht, wird Anfang Dezember beantwortet. Auch wenn mit Personen bestimmte Inhalte verbunden werden, ist eine andere Frage dennoch nicht gleichsam mitentschieden: Für was steht die CDU nach Angela Merkel?

Diese Frage zu diskutieren und zu beantworten ist für die Zukunftsfähigkeit der CDU als Volkspartei unverzichtbar. Nicht nur, weil der Wechsel im Vorsitz der Partei nach 18 Jahren eine Zäsur bedeutet, sondern auch, weil sich unser Land wie alle westlichen Demokratien revolutionären Veränderungen ausgesetzt sieht, ist die Bestimmung unseres geistigen Standortes wie unseres politischen Zielortes eine Überlebensfrage für die CDU.

Die CDU und die Kandidaten, die im Rennen sind, müssen es vermeiden, dass die Fokussierung auf die Personalfrage die Inhaltsfrage verdrängt. Wohin es führt, wenn eine Partei zwar das Personal auswechselt, aber man geistig mit ihr überhaupt nichts mehr verbinden kann, lehrt uns der Niedergang der SPD.

Ich sage das ohne Häme, im Gegenteil. Wenn man einmal alle Parteien ganz nüchtern daraufhin untersucht, was sie substanziell zu den großen Fragen unserer Zeit zu sagen haben, dann fällt das Ergebnis so ernüchternd aus, dass man von einer systemischen Schwäche unseres gegenwärtigen Parteiensystems sprechen muss.
Selbst der demoskopische Höhenflug der Grünen erweist sich bei einer solchen Analyse weniger als positiver Kompetenzzuspruch, sondern vielmehr als eine Ausweichreaktion von Wählern, die die Regierungsparteien in ihrer gegenwärtigen Verfassung für nicht wählbar halten.

 

Die einzig verbliebene Volkspartei
Die Dimension der Aufgabe, die vor uns als CDU liegt, ist damit umrissen: Als einzige noch verbliebene Volkspartei in Deutschland hat die CDU die Verantwortung, der fortschreitenden Fragmentierung, Irrationalisierung und Destabilisierung der politischen Landschaft in Deutschland etwas entgegenzusetzen. Dieses „Etwas“ kann nicht bloße Technik sein, ein „Fahrplan“ etwa, oder das eine oder andere Fachgesetz. Auch immer neue Sozialleistungen, mit denen man sich das Wohlwollen der Wähler glaubt verdienen zu können, wären vor allem Ausdruck der groben Unterschätzung des Ernstes der Lage, der vielen Wählern absolut bewusst ist.

Die CDU sollte vielmehr etwas erarbeiten, was kaum noch jemand erwartet: ein Zukunftsbild von Deutschland, das orientierend, stützend und schützend ist in Zeiten der allgemeinen großen Verunsicherung und integrierend ist in Zeiten zunehmender aggressiver gesellschaftlicher Partikularisierung. Was ist unser konkretes Bild von Deutschland 2025, eingebettet in europäische und internationale Verantwortung?
Die CDU muss ihre Werte nicht neu erfinden. Aber wir müssen sie neu anwenden auf radikal veränderte Umstände. Das ist intellektuell anspruchsvoll, und wir haben großen Nachholbedarf. Immerhin ist als strategischer Erfolg des Parteivorsitzes von Angela Merkel klar, dass der Platz der CDU nur die Mitte sein kann.
Aber infolge der radikalen Veränderungen muss diese Mitte definiert werden. Wenn sie sich im Wesentlichen nur ausdrückt in der Aufhebung des Wettbewerbs in der und um die Mitte, dann ist es unausweichlich, dass die Mitte bei Wahlen schrumpft und der Rand wächst.
Für die CDU geht es also nicht um Profil an sich oder um „klare Kante“, sondern um das Profil als Partei der Mitte. Was bedeutet dies konkret, wenn die CDU in Hessen genauso viele Stimmen an die Grünen wie an die AfD verliert?

Das ist nur scheinbar paradox und führt zum Kern, nämlich zum Thema Kompetenz bzw. Kompetenzverlust. Um die Frage zu beantworten: Sowohl die Geringschätzung der Klimafrage als auch die Unterschätzung der Fragen von Integration und Migration gefährden gleichermaßen die Existenz der CDU als Volkspartei der Mitte.
Die Kompetenzfrage als strategische Vertrauens- und damit Machtfrage und den Verlust, den auch die CDU erlitten hat, kann man in einer Feststellung bündeln: Der immer nur und dann hilflos auf Missstände reagierende Staat unterhöhlt seine Legitimation und Autorität.
Von der Weltfinanzkrise, der Euro-Krise, der Flüchtlingskrise, dem Lehrermangel, dem Pflegermangel und künftigem Ärztemangel bis zum Dieselschlamassel haben die Bürger eine Dekade von hinterherlaufender Politik erlebt, die dann auf den Plan tritt, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.
Ist hinterherlaufende Politik regieren?
Daraus müssen Lehren und Schlüsse gezogen werden. Unsere Methode des Regierens erscheint nicht zeitgemäß. Strategische, vernetzte Vorausschau hat keinen Ort – warum gibt es in Deutschland keinen Nationalen Sicherheitsrat? Strategische Zukunftsthemen wie Digitalisierung und Migration sind ohne klare, alleinige Ministerverantwortung.
Inhaltlich besteht kein Zweifel, dass die Flüchtlings- und Zuwanderungsfrage die politische Landschaft in fast allen westlichen Staaten grundlegend verändert hat. Bei allem Streit können wir feststellen, dass die allermeisten Deutschen kein Interesse an populistischen und ideologischen Aggressionen haben, sondern an der Aufrechterhaltung von Offenheit durch Wiedergewinnung von Stabilität und Kontrolle.
Aber nichts wird je wieder werden, wie es einmal war. Von Illusionen müssen wir uns verabschieden und stattdessen realistisch handeln: Die meisten der rund eine Million Menschen, die zu uns gekommen sind, werden bleiben. Wir brauchen schlicht ein neues Integrationskonzept für teilweise kulturell sehr entfernte Gruppen von Zuwanderern.
Eine weitere Wahrheit ist, dass wir Europäer aus Gründen der Migrationsprävention sowohl in der Konfliktregion des Mittleren Ostens als auch im demografisch enorm wachsenden Afrika viel mehr präsent sein müssen. Ich wage eine These mit weitreichenden Implikationen: Wir können die Stabilität der (west)europäischen Gesellschaften nicht mehr von der Instabilität dieser Regionen trennen, sondern müssen uns dem stellen. Das muss uns die Flüchtlingskrise lehren, wenn wir zumindest eine Chance haben wollen, die nächste zu verhindern.

Gegenwärtig liegt die (Nicht)Entstehung einer humanitären Katastrophe mit erheblichem Flüchtlingspotenzial in der syrischen Region Idlib in den Händen der Herren Putin und Erdogan! Damit bin ich bei Europa. Die CDU sollte auf diesem Feld die entscheidende Auseinandersetzung suchen, bei Weitem nicht nur, weil im Mai 2019 die Wahlen zum Europäischen Parlament anstehen.

Europa ist als Identitätsfrage entscheidend, weil sie zum Kampfthema gemacht worden ist. Die CDU muss hier mit voller Energie eintreten und kämpfen für das, was wir sind: Die christlich-demokratische Partei als Antwort auf den so unheilvollen nihilistischen Nationalismus. Bei uns steht der Mensch mit seiner personalen Würde im Mittelpunkt und darum auch die Menschheit, wir sind Europäer als historische Lehre, als Lebensform und als politische Perspektive der Nation.
Europa statt heilloser Nationalismus
Aber gerade weil wir das sind, müssen wir unsere Europa-Strategie neu bestimmen. Allein mit dem Status quo zu argumentieren, reicht nicht mehr, wenn die Europawahlen im nächsten Jahr nicht zum Fiasko werden sollen. Die EU muss sich vom Binnenprojekt zum Außenprojekt entwickeln. Angela Merkel hat in ihrer berühmten Bierzeltrede zutreffend dargelegt, dass wir Europäer unsere Interessen, vor allem unsere Sicherheitsinteressen, stärker in die eigene Hand nehmen müssen. Allein, im Zeitpunkt dieser Herausforderung befindet sich die EU in ihrer schlechtesten Verfassung. Ja, zum ersten Mal können wir scheitern.
Neben anderen Meinungsverschiedenheiten bildet das Gegenmodell der „illiberalen Demokratie“ innerhalb der EU, angereichert in jüngster Zeit durch eine links-rechts-populistische Regierung mit antieuropäischem Gestus in Italien, eine existenziell gefährliche Spaltung. Die CDU muss die Frage beantworten, wie wir uns die Rolle Deutschlands in dieser Lage vorstellen.
Ich glaube, dass grundsätzlich der europäische Kompromiss unser nationales Interesse ist. Wir sind zu groß für partikulare Interessendurchsetzung. Dass es in Europa läuft, ist das Wichtigste, das Gegenteil unser Schaden und im schlimmsten Fall eine Katastrophe.
Aber die EU der 27 Mitgliedstaaten wird auf absehbare Zeit die notwendige Handlungsfähigkeit nach außen nicht erreichen. Ein neuer Ansatz könnte darin liegen, eine Gruppe von Staaten zu bilden, die sich verständigt auf eine gemeinsame Politik im Mittleren Osten, eine gemeinsame Position gegenüber China und auch im transatlantischen Verhältnis. Zu dieser vorangehenden Avantgarde müssen Frankreich und Deutschland gehören, meiner Meinung nach sollten auch Post-Brexit-Britannien und Polen dabei sein.
Uns muss klar sein, dass die künftige schicksalhafte Entwicklung Europas stark an Deutschland hängt. Diese deutsche Verantwortung muss der Maßstab für die inhaltlichen Diskussionen und Positionen der CDU sein. Diesen Prozess wieder sichtbar und glaubwürdig in der Partei zu beheimaten, beschreibt das Zukunftsprojekt CDU, das vor uns liegt.