Eine Minderheitsregierung ist eine Option, die wir bedenken sollten

"Ich halte eine Minderheitsregierung für eine Option, die wir in dieser Situation bedenken sollten – sie ist nicht die schlechteste. Denn sie ermöglicht eine ganz andere Form der Politikgestaltung, die das Parlament ins Zentrum rückt. Der Bundestag würde ein entscheidender und spannender Faktor der Politikgestaltung. Mehr Parlament wagen, könnte die Devise sein", sagt Norbert Röttgen. 
Er hat seine Gedanken dazu in der Neuen Osnabrücker Zeitung erläutert. Das Interview mit Thomas Ludwig und Marion Trimborn im Wortlaut:

Herr Röttgen, freuen Sie sich schon auf eine Neuauflage der Großen Koalition, nachdem die SPD nun doch Gesprächsbereitschaft signalisiert hat?

Nein. Eine große Koalition ist sicher keine Wunschkonstellation. Eine große Koalition wäre natürlich die bequemere Variante, aber die letzten zwei Jahre der vergangenen Großen Koalition waren kein Höhepunkt des Regierens. Die beteiligten Parteien haben bei der Wahl erhebliche Verluste erlitten. Große Koalitionen galten in der Vergangenheit zu Recht immer als Ausnahmen, auch weil sie das Prinzip von Regierung und starker Opposition aushebeln.

Aber wie soll es denn jetzt weitergehen?

Die FDP hat sich der Regierung verweigert. Das hat uns in eine Situation gebracht, die nur zweitbeste Lösungen möglich macht. Ich habe Jamaika als eine Konstellation mit Potenzial angesehen. Die jetzt verbleibenden Optionen – Große Koalition, Minderheitsregierung, Neuwahlen – sind alle keine wirklich guten.

Eine weitere große Koalition triebe die AfD in den nächsten Jahren ziemlich sicher in neue Höhen….

Das muss nicht zwangsläufig so sein. Immerhin steht über allem eine Pflicht: Parteien sind nicht für sich selbst da, sie haben eine Verantwortung für das Ganze und Probleme für die Bürger zu lösen. Wenn man sich dieser Aufgabe entzieht, ist das die maximale Schwäche, die man sich als Partei eigentlich nicht leisten darf. Christian Lindner hat es im Wahlkampf auf den Punkt gebracht: „Nichtstun ist Machtmissbrauch – Es geht um unser Land“.

Ihr Vertrauen in die FDP ist erschüttert….

Das ist keine Frage des Vertrauens. Es geht darum, wie man sich als Partei in der Demokratie versteht. Entscheidend für das Scheitern der Sondierungen war das parteipolitische Kalkül der FDP-Spitze, dass es sich für sie parteipolitisch negativ auswirken würde, wenn sie Teil der Regierung wird. Die erreichten Ergebnisse waren kein Endpunkt, sondern der Startpunkt für die eigentlichen Koalitionsverhandlungen. Dass die FDP ausgerechnet an dieser Stelle die Segel gestrichen hat, macht klar: Sie hat Angst vor dem Regieren aus parteipolitischen Gründen.

Wie kann die Union der SPD entgegenkommen, um sie in die große Koalition zu holen. Bräuchte es nicht eine gewisse Erneuerung auch ohne Angela Merkel als Kanzlerin?

Erneuerung braucht es ganz sicher. Aber wir sind mit der Kanzlerin als Kandidatin in den Wahlkampf gezogen und sind bei weitem die stärkste Fraktion. Warum sollte eine große Koalition das anders sehen als eine Jamaika-Koalition?

Die SPD hatte aber immer das Gefühl, sich neben einer starken Kanzlerin nicht genügend zeigen zu können….

Die Sozialdemokraten können nicht das Recht auf eine schwache Kanzlerin geltend machen. Das wäre etwas zu viel der Fürsorge, die andere Parteien für die SPD aufbringen müssten. Die SPD muss aus sich selbst heraus stark werden.

Es geht also alles weiter wie bisher?

Auf keinen Fall. „Weiter so“ darf kein Prinzip für die nächste Regierung sein.

Warum nicht?

Aus zwei Gründen: Erstens wegen des Wahlergebnisses. Und zweitens wegen der Herausforderungen, die es zu lösen gilt, wie etwa die technologische Revolution durch Digitalisierung, den Stillstand in Europa, die Flüchtlingskrise – bei all dem ist Deutschland sehr gefragt. Wir aber leisten uns Schwächen und Egoismen in unserem politischen System, obwohl um uns herum in Europa und darüber hinaus alle auf Deutschland schauen und erwarten, dass Deutschland eine wichtige Rolle wahrnimmt, um für Stabilität in Europa und der Nachbarschaft zu sorgen. Dieser Kontrast zwischen dem kleinteiligen Treiben politischer Akteure in Berlin und der historischen Umbruchs- und Veränderungslage um uns herum ist eklatant.

Böte die von vielen Unionsabgeordneten verschmähte Minderheitsregierung einen Ausweg aus der politischen Sackgasse?

Ich halte eine Minderheitsregierung für eine Option, die wir unbedingt bedenken sollten – sie ist nicht die schlechteste. Denn sie ermöglicht eine ganz andere Form der Politikgestaltung, die das Parlament ins Zentrum rückt. Der Bundestag würde ein entscheidender und spannender Faktor der Politikgestaltung.

Welche positiven Veränderungen erwarten Sie?

Bei unterschiedlichen Themen würden sich die gesellschaftlichen Mehrheiten viel stärker durchsetzen als bei einer großen Koalition. Ich nenne ein Beispiel: Ein neuer Bundestag würde dann vielleicht zu einer eher restriktiveren Flüchtlingspolitik kommen, aber zu einer Legalisierung von Cannabis. Das wäre eine völlig neue Wettbewerbssituation und würde die Politik spannender und offener machen und die Demokratie beleben. Eine Minderheitsregierung ist gewissermaßen das Anti-Modell zur großen Koalition.

Da passt ja der Spruch von Willy Brandt: Mehr Demokratie wagen…

Mehr Parlament wagen, könnte die Devise sein.

Aber wenn sich die Regierung bei jedem Thema neue Mehrheiten im Parlament beschaffen muss, ist das auch riskant – es droht eine Blockade.

Es gibt einen Punkt, den man klären muss in einer Minderheitsregierung: Dass die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Regierung nicht beeinträchtigt wird. Wenn die Kanzlerin für außenpolitische Entscheidungen immer innenpolitisch ins Messer laufen würde, hätte sie keinen Handlungsspielraum in der Außenpolitik mehr. Deshalb müssten die Fraktionen der Mitte - also SPD, Grüne und FDP - vorab zusichern, dass eine Mehrheit des Bundestages die außenpolitischen Entscheidungen der Regierung grundsätzlich duldet.

Wie könnte da eine Regierungsmannschaft aussehen?

Das wird die Bundeskanzlerin entscheiden. Man muss dieses Modell erst mal unabhängig von Personen denken.

Wann sollte Ihrer Meinung nach eine neue Regierung spätestens stehen?

Anfang des Jahres.