FAZ Gastbeitrag: Europa sollte einen harten Brexit vermeiden 24. Juli 2018

Mit dem Weißbuch hat die britische Regierung endlich einen ernsthaften Vorschlag für die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU vorgelegt. Auf dieser Basis müssen nun Verhandlungen geführt werden, die unseren gemeinsamen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen Rechnung tragen. Dazu gehören z.B. Garantien für die Durchsetzung eines Zollsystems für Waren sowie die dauerhafte Angleichung von Rechtsvorschriften. Darüber habe ich gemeinsam mit anderen Autoren einen Gastbeitrag in der FAZ verfasst.

Europa sollte einen harten Brexit vermeiden

Im Juni 2016 stimmten die Bürger des Vereinigten Königreichs für den Ausstieg aus der EU. Während dieser zwei Jahre haben die Verhandlungen über die Brexit-Scheidungsbedingungen Fortschritte gemacht, aber die ebenso wichtige Gestaltung der zukünftigen Beziehung bleibt nach wie vor unklar. Im gleichen Zeitraum haben sich die Veränderungen in der globalen geopolitischen Landschaft verstärkt und uns in eine Welt geführt, in der regionale Beziehungen wieder eine größere Rolle spielen könnten. Jetzt, nach zwei Jahren, hat die britische Regierung endlich einen ernsthaften Vorschlag für die künftigen Beziehungen des Landes zur Europäischen Union vorgelegt.

Der Inhalt des Weißbuch der britischen Regierung verdient es, konstruktiv analysiert zu werden: Erstens schildert das Vereinigte Königreich, was es will und was es nicht will. Zweitens versucht es, politische und rechtliche Zwänge auf beiden Seiten zu berücksichtigen. Drittens ist es detailliert genug, um präzise Diskussionen zu ermöglichen. Außerdem erkennt es an, dass beide Parteien gemeinsame Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen haben.

Im Güterhandel kann der britische Vorschlag als ein Freihandelsabkommen des 21. Jahrhunderts betrachtet werden, in dem Ursprungsregeln durch ein neues und komplexes System der Zusammenarbeit im Zollwesen ersetzt werden und eine gemeinsame Regulierung für Produkte existiert. Insbesondere muss eine reibungslose Lösung gefunden werden, um weitere Spannungen in Irland zu verhindern. Jede Einigung auf dieser Grundlage erfordert auch eine konsequente Umsetzung: Der jüngste Bericht des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung liefert jedoch peinliche Indizien für Zollbetrug im Vereinigten Königreich.

Im Dienstleistungsbereich sind die Dinge unklarer. Das Weißbuch betont, dass das Vereinigte Königreich keinen vollen Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben wird, plant aber eine "enge" Beziehung. Was das bedeutet, steht zur Diskussion, und die Gegenleistung ist nicht immer klar. Das Weißbuch enthält grundsätzliche, aber vage und unverbindliche Aussagen über die künftige Regulierung im Vereinigten Königreich. Schwierige Verhandlungen stehen somit bevor.

Was die Mobilität der Arbeitskräfte anbelangt, so muss die EU entscheiden, ob sie den Zugang zum EU Binnenmarkt selbst bei einer begrenzten Anzahl von Produkten kategorisch ausschließt,  sofern es keine vollständige Mobilität der Arbeitskräfte gibt. Die als Untrennbarkeit der vier Freiheiten bekannte Doktrin beruht nicht auf soliden rechtlichen oder wirtschaftlichen Grundlagen, sondern diente als Grundlage für eine politische Einigung zwischen den 27 Mitgliedsländern und ist in Verträgen mit Drittländern wie Norwegen oder der Schweiz verankert. Sollte die EU von dieser Grundposition abrücken, so hätte vermutlich jede Änderung auch Auswirkungen auf die Beziehungen der EU zu diesen Ländern.

Im Hinblick auf das rechtliche und institutionelle Rahmenwerk macht das Vereinigte Königreich einige bedeutende Zugeständnisse. Die Vereinbarung würde den politischen Dialog einschließen, ohne dass das Vereinigte Königreich in Gremien mit abstimmen könnte, sowie die Anerkennung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) durch die britischen Gerichte in Bereichen des gemeinsamen Regelwerks. Beide Aspekte werden bei vielen im Vereinigten Königreich für Unmut sorgen. Sie oder etwas Vergleichbares sind jedoch notwendig: Marktintegration erfordert eine Anpassung der Rechtsvorschriften, und es bleibt unbestritten, dass die EU aufgrund ihrer relativen Größe eine wesentlich mächtigere Regulierungsbehörde ist und bleiben wird als das Vereinigte Königreich.

Da das Weißbuch nicht auf rote Linien, sondern auf Ziele ausgerichtet ist und es detailliert ist, spielt die britische Regierung den Ball zurück zur EU. Bis dato hat die EU nichts Ähnliches produziert, die Kommission hat bisher verständlicherweise eine harte Linie verfolgt. Sie wollte nicht mit der Diskussion über die künftigen Beziehungen beginnen, bevor die grundlegenden Bedingungen der Scheidung geklärt waren. Und sie wollte ihre Karten nicht zeigen, bevor das Vereinigte Königreich gesagt hatte, wozu es bereit war. Das Weißbuch könnte daher ein Wendepunkt sein. Damit das geschehen kann, muss das Vereinigte Königreich am Ende natürlich in der Lage sein, eine Vereinbarung zu treffen und die notwendige parlamentarische Unterstützung erhalten. Die EU wiederum muss langfristig denken und signalisieren, welche Art von Beziehungen sie zu ihrem Nachbarn aufbauen will.

Europa (zu dem natürlich das Vereinigte Königreich weiterhin gehören wird) steht am Scheideweg. Es steht vor viel größeren wirtschaftlichen, diplomatischen und sicherheitspolitischen Herausforderungen als noch vor zwei Jahren angenommen. Weder Herr Putin noch Herr Trump noch Herr Xi haben Sympathie oder Wohlwollen für uns. Auch Herr Erdogan nicht. Es ist also nicht der richtige Zeitpunkt für Europa, sich selbst Wunden zuzufügen.
 
Wie sollte die Position der 27 aussehen? Wir sind der Meinung, dass sie weder an starren Positionen festhalten noch sich hinter roten Linien verstecken sollten. Und die EU sollte nicht so tun, als gäbe es nur einfache vorgefertigte Lösungen, um eine Beziehung zu Großbritannien aufzubauen. Stattdessen sollten sie folgende Maßnahmen in Betracht ziehen:
 
• Seriöse Garantien für die Durchführung und Durchsetzung des vorgeschlagenen Zollsystems für Waren;
• Seriöse Garantien für eine dauerhafte Angleichung und Konvergenz der Rechtsvorschriften insgesamt;
• Klarheit über die Anwendung von EuGH-Urteilen, die die Funktionsweise integrierter Märkte betreffen;
• Schutzklauseln – einschließlich z.B. einer etwa zehnjährigen Probezeit – , die das künftige Abkommen umkehrbar machen würden, wenn sich das Vereinigte Königreich für den Regulierungswettbewerb entscheiden würde.
• Ein finanzieller Beitrag zum EU-Haushalt, der der zukünftigen angedachten Beziehung angemessen ist.

Die Aushandlung eines solchen Abkommens wird ein schwieriger Prozess, der in den nächsten Monaten wahrscheinlich nicht zu erreichen sein wird. Aber bis zum Herbst sollte es möglich sein, sich auf eine Richtung zu einigen. Eine zweijährige Übergangszeit bis Ende 2020, in der das Vereinigte Königreich im Binnenmarkt und in der Zollunion bleiben würde, würde es ermöglichen, ein vernünftiges Verhältnis für die Zukunft auszuhandeln, das im geostrategischen Interesse aller Beteiligten liegt. 

Die Autoren: Prof. Jean Pisani-Ferry, European University Institute, Florenz; Dr. Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages; Prof. Dr. André Sapir, Université libre de Bruxelles; Paul Tucker, Harvard Kennedy School; Dr. Guntram Wolff,  Direktor Bruegel.